Am Tor Zur Hoelle
einen einzigen Grund, aus dem sie dich einladen: Sie wollen dir den Prozess machen und dich dann ins Gefängnis stecken oder dich als Kriegsverbrecher zum Tode verurteilen.« Mein Verstand sagte mir: »Das glaube ich nicht.« Doch die Angst saà zu tief, um ihr nicht nachzugeben.
Es gab nur eines: Ich musste die Angst annehmen, sie umarmen; ich musste die Natur dieser Angst tief ergründen und trotzdem aufbrechen. Ich musste nach Frankreich gehen. Ich nahm mir selbst das Versprechen ab, nach Frankreich zu reisen. »Wenn sie mich töten«, dachte ich, »wenn genau das passieren wird, dann werde ich zu guter Letzt vielleicht Frieden finden.«
In jenem ersten Sommer blieb ich sechs Wochen in dem Zentrum im Südwesten Frankreichs. Während dieser Zeit lebte ich mit ungefähr vierhundert Vietnamesinnen und Vietnamesen zusammen. Wohin ich mich auch wandte, tauchten stets neue Erinnerungen auf. Wohin ich mich auch wandte, ich kam mehr und mehr mit der Wirklichkeit des Krieges in Berührung, mit dem Leiden, das ich mit angesehen hatte, mit der Verzweiflung, die ich empfunden hatte, mit dem Trauma, das beide Seiten erfahren hatten. Ãberall â es war überall.
In Plum Village gab es damals zwei Wohn- und Lebensbereiche: das Lower Hamlet (Unterer Weiler) und das Upper Hamlet (Oberer Weiler). Im Oberen Weiler lebten während der Sommerwochen die westlichen Menschen; der Untere Weiler war fast ausschlieÃlich von Vietnamesen bewohnt. Als ich anreiste, gab es eine Diskussion darüber, wo ich wohnen sollte. Ich ging davon aus, dass ich wahrscheinlich mit der westlichen Gemeinschaft leben würde, aber Schwester Chan Khong entschied: »Nein, du wirst bei den Vietnamesen leben.« Direkt inmitten der vietnamesischen Gemeinschaft zu leben â das konnte ich so nicht. Also suchte ich mir einen Platz im Wald, vielleicht einen halben Kilometer vom Dorf entfernt, und schlug mein Zelt auf. In einem Abstand von zwanzig bis dreiÃig Metern zog ich um mein Zelt einen Halbkreis aus kleineren Stolperfallen â nicht um jemanden ernstlich zu verletzen, sondern um mich wissen zu lassen, wenn sich jemand näherte und um die Menschen abzuschrecken.
Zehn Tage bevor ich Plum Village verlieÃ, entfernte ich diese Stolperfallen. Ich suchte Schwester Chan Khong auf und erzählte ihr davon. Ich erklärte ihr, dass ich niemanden habe verletzen, sondern mich nur habe schützen wollen. Sie sagte: »Es ist gut, dass du die Stolperfallen hast entfernen können. Doch wenn du es brauchst, sie wieder zu errichten, dann tu das.« Eine derart bedingungslose Annahme hatte ich noch nie zuvor erfahren.
Die vietnamesische Gemeinschaft begegnete mir voller Liebe. Die Menschen dort machten mir nicht den Prozess. Sie boten mir die Gelegenheit, mit ihnen in Achtsamkeit zu leben, tief in die Natur meines Selbst zu blicken und den Prozess der Heilung und Transformation zu beginnen. Das geschah nicht durch bestimmte Worte, sondern einzig durch das Leben inmitten der vietnamesischen Gemeinschaft. Jedes Gesicht, in das ich blickte, brachte eine neue Erinnerung; jedes Kind, das ich ansah, brachte eine neue Erinnerung. Der Geruch von Essen, das zubereitet wurde, brachte eine neue Erinnerung; den Feierlichkeiten und Zeremonien zuzuschauen brachte eine neue Erinnerung. Ich sah junge vietnamesische Frauen in ihren wunderschönen traditionellen Kleidern, und der Lärm des Krieges war mir wieder gegenwärtig: Salven von Schnellfeuerwaffen, Raketen, Explosionen, Schreie; ich vernahm den Geruch von SchieÃpulver, Blut und Tod; und ich erinnerte mich an all die Angriffe auf Dörfer, die ich erlebt hatte und an denen ich beteiligt gewesen war.
Ich konnte nicht sprechen. Ich hatte keine Worte für das, was ich empfand, ich konnte nicht über meine Erfahrungen sprechen, denn ich glaubte, wenn ich das täte, würden mich die Vietnamesen gewiss hassen â wenn sie wüssten, wer ich war und dass ich als Soldat in Vietnam gewesen war. Erst später fand ich heraus, dass Thich Nhat Hanh und Schwester Chan Khong der vietnamesischen Gemeinschaft bei einem der regelmäÃigen Treffen längst erzählt hatten, wer ich war und warum ich dort war. Dieses Wissen schien die Liebe, mit der sie alle mir begegneten, nur noch zu verstärken.
Ich war von Schuldgefühlen völlig überwältigt, und wann immer ich versuchte, mit den Mönchen und Nonnen darüber zu sprechen, sagten sie:
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