Am Tor Zur Hoelle
Leiden von Angesicht zu Angesicht zu stellen, die einzelnen Facetten des Leidens zu begreifen und zu erkennen, wie es unser gegenwärtiges Leben beeinflusst. Er ermutigte uns, über unsere Erfahrungen zu sprechen, indem er uns versicherte, dass wir es verdient hätten, gehört und verstanden zu werden. Er sagte, wir stellten ein enormes Potenzial dar, Heilung in die Welt zu tragen.
Er erzählte uns auch, dass die Nicht-Veteranen gröÃere Verantwortung für den Krieg trügen als die Veteranen. Dass es wegen der wechselseitigen Verbundenheit aller Dinge keine Möglichkeit gebe, der Verantwortung zu entfliehen. Dass diejenigen, die glaubten, nicht verantwortlich zu sein, die gröÃte Verantwortung trügen. Dass der Lebensstil der Nicht-Veteranen die Institution Krieg unterstütze. Die Nicht-Veteranen, sagte er, müssten sich mit den Veteranen zusammensetzen und zuhören, müssten uns wirklich zuhören, müssten unsere Erfahrungen wirklich anhören. Sie müssten die Gefühle, egal welcher Art, zulassen, die in ihnen aufkommen, wenn sie sich uns widmen, wenn sie mit uns sprechen und uns zuhören â sie dürften dem, was sie in unserer Gegenwart erfahren, nicht ausweichen, dürften dieses Erleben nicht beherrschen wollen, sondern sollten einzig gegenwärtig sein und uns anhören.
Das Retreat dauerte sechs Tage. Mit diesen vietnamesischen Menschen zusammen zu sein eröffnete mir die Möglichkeit, mich dem emotionalen Chaos zu stellen, das meine Vietnam-Erfahrung darstellte. Gegen Ende des Retreats ging ich zu Schwester Chan Khong, um mich zu entschuldigen und um zu versuchen, die Zerstörung und das Töten, an dem ich teilgehabt hatte und für das ich verantwortlich war, irgendwie wieder gutzumachen. Ich brachte es nicht fertig, mich ohne Umschweife zu entschuldigen. Vielleicht besaà ich einfach nicht den Mut. Ich schaffte es einzig zu sagen: »Ich möchte nach Vietnam gehen.« Während des Retreats hatte ich erfahren, dass man uns unterstützen würde, wenn wir, die wir gekämpft hatten, nach Vietnam gehen wollten, um beim Wiederaufbau des Landes zu helfen. Und so bat ich unter Tränen darum, nach Vietnam zu gehen; mehr brachte ich nicht heraus.
Schwester Chan Khong sah mich an, sah meine Tränen und sagte: »Bevor du nach Vietnam gehst, wäre es vielleicht ratsam, du kämst nach Plum Village«, dem spirituellen Zentrum von Thich Nhat Hanh in Frankreich. Sie fuhr fort: »Wenn du im Sommer kommst, sind viele Vietnamesen dort â Flüchtlinge, Boat people â, und du kannst vietnamesische Menschen in einem anderen Zusammenhang kennen lernen. Komm nach Plum Village. Wir helfen dir. Lass dir von uns helfen.« Ich war überwältigt, denn von meinen Landsleuten hatte mir nie jemand ein solches Angebot gemacht â das Angebot, mich darin zu unterstützen, anders zu leben, Frieden zu finden. Auf einer tiefen Ebene begriff ich die Wahrheit und Aufrichtigkeit dieses Angebotes, und die Tatsache, dass dieses Angebot von meinem Feind, den Vietnamesen, gemacht wurde, zählte nicht gering. Ich erwiderte: »Ich würde sehr gern nach Plum Village kommen, aber ich habe kein Geld.« Und sie antwortete: »Mach dir darum keine Sorgen.« Sie bot mir etwas an, das meine Gesellschaft, meine Kultur mir nie angeboten hatte: für mich zu sorgen. Mein Feind! Meine Reisekosten wurden schlieÃlich von den Spenden bestritten, die die Teilnehmer des Retreats aufbrachten, und mein Aufenthalt in Plum Village wurde von der vietnamesischen monastischen wie von der Laiengemeinschaft finanziert. Mein Feind umarmte mich und half mir auf eine Weise, die meinen Landsleuten nie in den Sinn gekommen wäre.
Ich erklärte mich also bereit, das Zentrum in Frankreich aufzusuchen. Unmittelbar nachdem ich zugestimmt hatte, verspürte ich ein Gefühl der Leichtigkeit â als wäre eine schwere Last von mir genommen worden. Ich war aufgeregt und gerührt von der Fürsorglichkeit und der Unterstützung, die ich von der vietnamesischen Gemeinschaft erfuhr. Einige Tage später jedoch wurde ich wieder von Angst überwältigt. In diesem Land hatte niemand je die Hand ausgestreckt, niemand mir je Hilfe angeboten, ohne mich für irgendeinen Zweck einspannen zu wollen. Warum sollte ich darauf vertrauen, dass ausgerechnet mein Feind mir helfen, mich auf diese Weise annehmen wollte? Meine Angst sagte: »Es gibt nur
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