Am Ufer der Traeume
»Ich suche uns einen Lagerplatz. Wartet hier auf mich.«
»Beeil dich«, erwiderte Fanny, nicht glücklich darüber, dass Molly sie in dem Wald allein ließ. »Du weißt doch ... hier soll es Strauchdiebe und Wegelagerer geben. Ich hab keine Lust, von einem Räuber erwischt zu werden.«
Molly lachte. »Was sollten sie uns schon stehlen? Den Topf, die Essnäpfe und die Löffel? Die Decken und die Lumpen?« Ihr Blick fiel auf die nackten Beine ihrer Schwester und ihr Lachen verstummte. »Zieh dir die Decke über die Beine, sonst wirst du noch krank! Und geht nicht weg, ich bin gleich zurück!«
Sie verschwand im Unterholz und bahnte sich einen Weg durch das dichte Gestrüpp. Es war bereits so dunkel, dass sie kaum etwas sehen konnte. Schon nach wenigen Schritten verletzte sie sich an einem Dornenstrauch, und als sie über einen umgestürzten Baumstamm stolperte, landete sie so hart auf dem Boden, dass sie einige Zeit benommen liegen blieb. Dicht vor ihrem Gesicht lief ein Käfer vorbei und ihr erster Gedanke war, ob man ihn essen konnte. Erst jetzt spürte sie, wie hungrig sie war. Selbst wenn man die karge Kost der letzten Wochen gewöhnt war, reichte ein Essnapf mit Wurzelsud nicht aus.
Sie stemmte sich vom Boden hoch und sah etwas Helles durch die Bäume schimmern. Ein Feuer, keine fünfzig Schritte von ihr entfernt. Sie dachte sofort an die Strauchdiebe, vor denen sich ihre Schwester so fürchtete, schlich aber dennoch näher und sah einen Mann und eine Frau und drei Kinder um das Feuer sitzen. Sie brieten ein kleines Tier, wahrscheinlich ein Eichhörnchen. Die Frau schien krank zu sein und lehnte an einem Baumstamm, die Kinder waren viel zu erschöpft, um zu spielen oder etwas zu sagen. Der Mann drehte den Stock mit dem mageren Tier im Feuer, noch nicht einmal groß genug, um die Kinder satt zu kriegen. »Hallo!«, kündigte sie ihr Kommen an.
Schon bei der ersten Silbe griff der Mann nach einem Knüppel und blickte angriffslustig in ihre Richtung, fest entschlossen, seine Frau und seine Kinder mit allen Mitteln gegen mögliche Strauchdiebe zu verteidigen. Als er Molly auf die Lichtung treten sah, entspannte er sich ein wenig. »Wer sind Sie?«
»Molly Campbell«, antwortete sie. »Ich bin mit meiner Mutter und meiner Schwester unterwegs. Der Landbesitzer hat uns von der Farm gejagt, ein paar Meilen südlich von Castlebar. Dürfen wir an Ihr Feuer kommen, Mister?«
»Patrick Maynard«, antwortete der Mann, den Knüppel immer noch in der Hand. »Das sind meine Frau Mary und meine drei Kinder.« Er warf den Knüppel ins Laub. »Meinetwegen, aber das Eichhörnchen gehört uns. Wir haben seit drei Tagen nichts mehr gegessen und können nichts entbehren.«
»Wir wollen nichts von Ihnen, Mister Maynard. Nur etwas Wärme.«
Ihre Mutter und Fanny lächelten dankbar, als Molly zurückkehrte und ihnen von der Familie am Feuer erzählte. Die Aussicht, nach dem anstrengenden Marsch durch den kühlen Wind an einem warmen Feuer sitzen zu können, zauberte sogar auf das Gesicht ihrer Mutter ein sanftes Lächeln. Molly führte sie zum Lagerplatz der Familie. Die Maynard-Kinder waren bereits dabei, das kaum gebratene Fleisch des Eichhörnchens zu verzehren, während ihre Eltern die Brühe aus ihren Essnäpfen tranken. Anscheinend hatten Sie Angst, etwas von dem kargen Abendmahl abgeben zu müssen. »Meine Mutter und meine Schwester Fanny«, sagte Molly. Sie versuchte, den ängstlichen Kindern mit einem Lächeln klarzumachen, dass niemand daran dachte, ihnen das Fleisch wegzunehmen, und wandte sich an ihre Mutter: »Ich sehe mal, ob ich was zu essen für uns finden kann. Setzt euch dicht ans Feuer! Sieht ganz so aus, als käme der Winter dieses Jahr etwas früher. Ich bin gleich zurück.«
Inzwischen war es Nacht geworden. In der Dunkelheit sah Molly keine drei Schritte weit und riss ihre Beine an den herumliegenden Ästen und Zweigen auf. Ihre Füße brannten von dem langen Marsch über die holprige Wagenstraße und fanden kaum Halt im dichten Unterholz. Als sie stolperte und auf eine herumliegende Astgabel trat, fluchte sie schmerzerfüllt. Sie kürzte über einen umgestürzten Baumstamm ab und erreichte den Waldrand.
Erleichtert blickte sie zum Himmel empor. Zwischen den dunklen Wolken waren der Mond und ein Teil der Sterne zu sehen und über den Wiesen, die bis zum Waldrand reichten, lag blasses Licht.
Gebückt lief sie an den Bäumen entlang, den Blick auf die dunkle Erde gerichtet, auf der Suche nach essbaren
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