Am Ufer der Traeume
praktisch veranlagte und nüchterne Frau, die selbst wenig Liebe erlebt hatte und ihre Zuneigung nicht zu zeigen verstand.
Bryan ging es wohl ähnlich, doch als sie an einem sonnigen Novembertag zum Angeln bei ihm gewesen war, ihm zum Abschied zuwinkte und bereits bei den Bäumen war, rief er ihr fröhlich nach: »Hey, Little Red! Jetzt kennen wir uns schon ein paar Wochen! Wann gibst du mir endlich einen Kuss?«
»Vielleicht an Weihnachten, Blue Eyes«, antwortete sie. »Aber nur, wenn du brav bist.« Sie war froh, dass er ihre verlegene Miene nicht sehen konnte.
»Ich zähle auf dich, Little Red!«
»Freu dich nicht zu früh, Blue Eyes!«
Vielleicht wäre es sogar früher zu dem von beiden ersehnten Kuss gekommen, wenn sich der Herrgott nicht entschieden hätte, ihnen eine weitere Prüfung aufzuerlegen. Wie Reisende, die einen anstrengenden und gefährlichen Weg hinter sich gebracht hatten und von einer unsichtbaren Macht an ihren Ausgangspunkt zurückgetrieben wurden, waren auch sie plötzlich wieder tödlichen Gefahren ausgesetzt. Eben noch den Auswirkungen der Kartoffelfäule entkommen und an einem Ort, der eine warme Unterkunft und genügend Nahrung für sie bereithielt, standen sie plötzlich erneut am Rand eines tiefschwarzen Abgrunds.
Mit einer düsteren Vorahnung stand Molly eines Morgens im Dezember am Eingang der Höhle und starrte auf die dunkle Wolkenwand, die sich im Südwesten über den Hügeln gebildet hatte und viel zu rasch näher kam. Wie schwarzer Rauch aus dem Maul eines mächtigen Drachen quollen die Wolken am Horizont empor und verschluckten die orangefarbenen Streifen, die noch vor wenigen Minuten mit der aufgehenden Sonne am Himmel erschienen waren. Die Hügel im Südwesten, eben noch herbstlich braun, verschwanden hinter einem undurchdringlichen Vorhang aus Schnee, der in dichten Schleiern vom Wind über das Land getrieben wurde. Der Wind brauste auf und verfing sich in dem Gebüsch vor der Höhle, peitschte entwurzelte Zweige vor sich her.
»Ein Unwetter!«, erschrak Molly. Sie stand da wie zu Stein erstarrt.
»Ein Blizzard«, erklärte ihre Mutter. Sie war unbemerkt neben ihre Tochter getreten und starrte ebenso entsetzt auf die schwarze Wolkenwand. »Vor ein paar Jahren soll es so was schon mal in den Bergen gegeben haben. Ein gewaltiger Schneesturm, der alles niederwalzt, was sich ihm in den Weg stellt.«
»Ein Hurrikan!«, rief Fanny entsetzt.
Molly riss sich als Erste von dem bedrohlichen Anblick los. »Schnell! Ganz nach hinten!«, trieb sie ihre Schwester und ihre Mutter in die Höhle zurück. »Und nehmt eure Decken mit! Ich kümmere mich um das Feuer!«
Sie rannte zum Feuer und warf einige Holzscheite in die Flammen, sammelte rasch ein paar Vorräte ein und war gerade auf dem Weg zu ihrer Schwester und ihrer Mutter, als der Blizzard über sie hereinbrach. Von einer Sekunde auf die andere wurde es stockdunkel, ein ohrenbetäubendes Heulen erfüllte die Luft, und der Sturm drängte mit solcher Wucht gegen die Felswand, dass Molly glaubte, von einem gewaltigen Ungeheuer angegriffen zu werden. Es riss die Büsche vor dem Höhleneingang aus dem Boden, schleuderte sie mitsamt den Wurzeln gegen die Felswand und peitschte eiskalten Schnee in die Höhle. Wie die Gischt eines aufgewühlten Meeres fegten die tobenden Wogen zu ihnen herein, löschten das Feuer, drückten Molly zu Boden und zwangen sie, auf allen Vieren zu den anderen in die hinterste Ecke zu kriechen.
Wie drei hilflose Wesen, die den geöffneten Rachen eines riesigen gefräßigen Drachens über sich sahen, klammerten sich Molly, Fanny und ihre Mutter aneinander. Sie starrten hilflos in den Blizzard, der lauter als ein stürmischer Ozean in ihrer Höhle tobte. Der Wind ließ ihre Decken und Lumpen flattern und riss ihre Haare auseinander, zerrte an ihnen und peitschte sie ihnen ins Gesicht. Sie klebten an der Felswand, fanden keine Nische und keine Vertiefung, in die sie kriechen konnten, waren der Wucht des Blizzards hilflos ausgeliefert. Selbst in der schützenden Höhle schien sich der Sturm ungehindert austoben zu können. Die Höhle war zu klein, um ihnen vollkommenen Schutz zu bieten, der Eingang zu groß, um den Wind abzuhalten.
Nur durch die Körperwärme der anderen geschützt, standen sie den Blizzard durch. Molly betete verzweifelt, Fanny wimmerte vor Angst, ihre Mutter sagte gar nichts, ertrug das Unwetter mit dem Gleichmut einer Frau, die nichts mehr erschüttern konnte. Selbst als der heulende Wind
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