Am Ufer der Traeume
so plötzlich verstummte, wie er aufgekommen war, und der Blizzard mit den dunklen Wolken über die Felswand zog, blieben sie aneinandergepresst stehen, als trauten sie dem plötzlichen Wetterwechsel nicht und befürchteten, der Sturm könnte jeden Augenblick von Neuem über sie hereinbrechen. Doch der Wind blieb stumm und zwischen den Wolken zeigten sich sogar einige Sonnenstrahlen.
Molly seufzte erleichtert, klopfte sich den Schnee von der Kleidung und half auch ihrer Schwester und ihrer Mutter, sich davon zu befreien. Das Gesicht ihrer Mutter war kalkweiß und ihre Lippen waren blau verfärbt. Fanny sah etwas besser aus, verzog aber schmerzhaft das Gesicht und weinte leise. Molly umarmte sie fest und sagte: »Das Unwetter ist vorbei, Fanny. Jetzt wird alles wieder gut.« Sie blickte der Schwester in die Augen. »Beweg dich ein bisschen, dann wird dir wärmer! Du auch, Mutter! Lasst die Kälte erst gar nicht an euch rankommen. Ich zünde inzwischen ein Feuer an.«
Sie trat in den Lichtschein, der nach dem Blizzard wieder in die Höhle fiel, und erschrak, als sie das Ausmaß der Verwüstung erkannte, die der Sturm auch in ihrem Versteck angerichtet hatte. Überall lag Schnee, besonders dort, wo sie gestanden hatten, und links vom Eingang, wo der Schnee mit voller Wucht gegen die Felswand geschlagen war. Ihr Lagerplatz war nicht mehr zu erkennen. Ihre Decken und das Laub lagen irgendwo verstreut, die Steine ihrer Feuerstelle waren mit Schnee bedeckt.
Draußen bot sich ein noch schlimmeres Bild. Als sie vor die Höhle trat und ihren Blick schweifen ließ, erkannte sie die bisher so vertraute Gegend kaum wieder. Wie die erstarrten Wellen eines weißen Ozeans lagen die Schneewehen über den Hügeln. Das dunkle Braun des fernen Moors und das tiefe Grün der wenigen Fichten und Kiefern waren kaum noch zu erkennen. Feiner Nebel hing in trüben Schleiern vor dem Horizont. Ein friedliches Bild, das darüber hinwegtäuschte, welche Gefahren diese Veränderung in sich barg. In dem tiefen Schnee würde man kaum noch jagen können, selbst wenn sie es fertigbrachten, sich Schneeschuhe anzufertigen. Der Bach würde rasch zufrieren und sie am Angeln hindern. Es würde kaum noch trockenes Feuerholz geben.
Sie rieb ihre eisigen Hände gegeneinander und stapfte ein paar Schritte durch eine tiefe Schneewehe. Aus einem Gestrüpp zog sie einige trockene Zweige und nassen Vorrat, den sie neben dem Feuer trocknen wollte. Sie trug beides in die Höhle und suchte einen einigermaßen trockenen Flecken für eine neue Feuerstelle. Ihre Schwester und ihre Mutter folgten hoffnungsvoll ihren Bewegungen, die Arme zitternd um den eigenen Körper geschlungen.
Als Molly die Streichhölzer aus ihrer Tasche zog, fluchte sie ungeniert. Sie waren nass geworden und zündeten nicht mehr. Nicht mal ein winziger Funken sprang empor. Sie stand enttäuscht auf. »Sie müssen erst trocknen ... wird eine Weile dauern.« Sie blickte ihre Mutter und ihre Schwester nicht an, wollte nicht die Enttäuschung in ihren Augen sehen. »Aber Bryan hat sicher welche. Er hat sie bestimmt an einem trockenen Ort aufbewahrt, so wie wir es auch hätten machen sollen.« Erst jetzt hob sie den Kopf. »Hängt euch alle Decken um und wärmt euch gegenseitig! Ich bin in ein paar Stunden zurück!«
»Du willst zu ... Bryan?«, wunderte sich ihre Schwester. »Aber der ... der Schnee! Da kommst du nie durch! Wir wissen ja nicht mal, ob er, ob er ...«
»Bryan lebt!«, erwiderte Molly fest.
Nur in ihrem dünnen Kleid, einem Poncho, den sie sich aus einer Decke geschneidert hatte, und den knapp sitzenden Schuhen machte sich Molly auf den Weg. Sie wusste, wie gefährlich es war, ihre Mutter in der Kälte zurückzulassen. Die Gefahr, dass sie erneut krank wurde, war riesengroß und ohne ein wärmendes Feuer und heißen Tee oder Brühe wäre sie dem Tod hilflos ausgeliefert. Auch Fanny machte einen labilen Eindruck, zitterte beinahe mehr als ihre Mutter. Molly kämpfte tapfer gegen die Kälte an, allein die Angst, Bryan nicht mehr lebend oder schwer verletzt vorzufinden und allein mit ihrem Schicksal zu sein, ließ ihr Blut schneller durch die Adern fließen und schützte sie gegen den hereinbrechenden Winter. Sie konnte sich nicht erinnern, jemals einen solchen Sturm erlebt zu haben, und tatsächlich würde sie später erfahren, dass ausgerechnet der lange Winter während der Hungersnot zu den kältesten gehörte, die Irland je erlebt hatte.
Von der Angst um Bryan getrieben,
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