Am Ufer der Traeume
kämpfte sie sich durch den Schnee. Die ersten Schritte führten durch hohe Verwehungen, die ihr fast bis an die Hüfte reichten und sie nur im Schneckentempo vorankommen ließen. Schon nach wenigen Schritten spürte sie, wie sie ins Schwitzen geriet. So würde sie einen halben Tag bis in Brians Tal brauchen. Zum Glück erreichte sie schon bald einen Hügelkamm, in dessen Windschatten kaum Schnee lag, wodurch sie wesentlich schneller vorankam. An einigen Stellen war sogar das braune Gras zu sehen. Der Wind war zu einem schwachen Lüftchen geworden und machte ihr kaum noch zu schaffen. Der Himmel war bedeckt, doch die schwarzen Sturmwolken waren nach Nordosten abgezogen und konnten ihr nicht mehr gefährlich werden. In hektischer Eile erreichte sie den Wasserfall.
Der Abstieg über den kaum noch sichtbaren Pfad wurde zu einem halsbrecherischen Abenteuer. Der Wald bestand überwiegend aus kahlen Laubbäumen, durch die der Blizzard ungehindert hindurchgefegt war und gewaltige Schneemengen auf den Pfad getrieben hatte. Mit beiden Armen ruderte Molly durch den Schnee, der sich ihr wie zäher Morast entgegenstemmte. Nur weil der Weg steil nach unten führte, kam sie überhaupt voran, brauchte aber mehr als doppelt so lange wie vor einigen Tagen für den Abstieg. Wegen der dichten Nebelschwaden, die in den verschneiten Baumkronen hingen, konnte sie Bryans Lager nicht erkennen und nicht feststellen, wie es ihm ergangen war.
Keuchend vor Anstrengung trat sie unterhalb der steilen Böschung aus dem Wald. Ungläubig blickte sie auf das entwurzelte Gestrüpp und die abgerissenen Äste und Zweige, die im ganzen Tal verstreut lagen und teilweise aus hüfthohen Schneewehen ragten. Trotz der beinahe andächtigen Stille, die hier herrschte, waren das Rauschen des Wasserfalls und das Sprudeln des Baches kaum noch zu hören. Massive Schnee- und Eisbrocken bremsten den Fluss des Wassers und die Schneemassen dämpften alle Geräusche. Von Bryans Hütte war kaum noch etwas zu sehen. Obwohl er sie zwischen den Bäumen errichtet hatte, war der Sturm zu ihr vorgedrungen und hatte die Äste und Decken in alle Winde zerstreut. Nirgendwo brannte ein Feuer, nirgendwo war ein Zeichen von Leben.
»Bryan!«, flüsterte Molly. Dann rief sie lauter und in aufkommender Panik: »Bryan! Bryan! Wo bist du? Sag doch was, Bryan! Sag, dass du am Leben bist!«
Sie grub sich aus dem tiefen Schnee und rannte zwischen den Schneewehen hindurch zu der Stelle, wo seine Hütte gestanden hatte. Dort sah sie Bryan in eine Decke gehüllt im tiefen Schnee liegen. »Bryan! Mein Gott, Bryan!« Sie beugte sich über ihn, weckte ihn mit ein paar Klapsen auf die Wange aus seiner Benommenheit und atmete erleichtert auf, als er die Augen öffnete. »Bryan! Bryan! Ich bin’s ... Molly! Was ist passiert, Bryan? Alles in Ordnung mit dir?«
Er brauchte einige Zeit, um sich zu orientieren. »Molly!«, erkannte er sie schließlich. »Molly! Ich dachte schon ... ich ... ich wollte gerade zu dir, als der ... der verdammte Blizzard kam. Der Sturm hat mich glatt geschafft ...«
»Hauptsache, du bist nicht verletzt. Du hast dir doch nichts gebrochen?«
Er richtete sich auf, bewegte seine Arme und berührte vorsichtig seine Beine. »Nichts passiert ... nur ein bisschen groggy von dem Sturm. Du hättest sehen sollen, wie der Blizzard durch die Bäume ...« Er hielt mitten im Satz inne. »Was ist mit deiner Mutter und deiner Schwester? Sind sie ... sind sie ...«
»Ihnen ist nichts passiert. Sie frieren nur erbärmlich ... so wie ich nach diesem ...« Sie blickte zurück und rieb ihre eiskalten Hände gegeneinander. »So wie ich nach diesem Marsch. Der Blizzard kam bis zu uns in die Höhle. Wir haben kein trockenes Brennholz mehr und unsere Streichhölzer sind nass. Ich dachte ...«
Bryan stand auf und schwankte ein wenig, war immer noch benommen. Molly schloss ihn rasch in die Arme und hielt ihn fest. So standen sie minutenlang, sich gegenseitig wärmend und die Körper so fest aneinandergeschmiegt, als hätten sie Angst, von einer bösen Macht getrennt zu werden. Ihr Herzschlag verschmolz in einem schnellen Rhythmus, ihr gefrorener Atem vermischte sich, ihr Lächeln drückte die Freude und Dankbarkeit aus, die beide in diesem winzigen Augenblick des Glücks empfanden. Erst der Schrei eines Raben holte sie in die Wirklichkeit zurück und ließ sie das Ausmaß der Katastrophe erkennen, der sie nach diesem furchtbaren Blizzard ausgesetzt waren.
»Wir bekommen einen schlimmen
Weitere Kostenlose Bücher