Am Ufer der Traeume
seine Schuhe ...«
»Hat er dich ... angefasst?«
»Angefasst? Nein ...« Ihre Antwort klang nicht sehr überzeugend. »Ich hab ihm schöne Augen gemacht und er ...« Sie gab sich einen Ruck. »Also gut, er hat mich gestreichelt. Nicht, wie du denkst. So wie man ein Kind streichelt.«
»Weiter nichts?«
»Weiter nichts, Molly.«
»Und du hast nicht mit ihm ... du weißt, was ich meine.«
»Nein, Molly. Ehrlich nicht.«
Ihre Mutter erschien. Sie wirkte ebenso erschöpft wie am vergangenen Tag, kannte Fanny aber zu gut und bemerkte sofort die Veränderung in ihrem Gesicht. »Fanny!«, flüsterte sie entsetzt. »Was hat der Kerl mit dir gemacht?«
Sie bekam die gleichen Antworten wie Molly und gab sich genauso wenig damit zufrieden. Doch alles Nachhaken nützte nichts. Fanny blieb bei ihrer Darstellung, dem Master nur geholfen zu haben. »Um mich brauchst du dich nicht zu sorgen, Mutter«, sagte sie. »Ich weiß genau, was ich tue.«
Molly verzichtete auch an diesem Mittag auf ihr Schwarzbrot. Sie ließ die Scheibe blitzschnell in der Tasche ihrer Uniform verschwinden und begnügte sich mit ihrer Buttermilch. Weder ihre Mutter noch ihre Schwester bemerkten, wie sie das Brot wegsteckte. Molly wollte sie nicht unnötig ängstigen.
Nach dem Essen gingen die Frauen in den Hof und Molly starrte wieder auf die Mauer, als könnte sie die Ziegelsteine mit ihren Blicken durchdringen. Der Himmel hing voller Wolken und es war bitterkalt. Bis es Frühjahr wurde, würde sie noch viele Male in diesem Hof stehen, eine unendlich lange Zeit, während der sie Bryan kaum zu Gesicht bekommen würde. Ein Gedanke, der sie erschreckte. Allein die ersten beiden Tage im Arbeitshaus hatten ihre Hoffnung bedenklich schrumpfen lassen und ihr klargemacht, dass sie auch hinter den hohen Mauern des Union Workhouse nicht vor den Auswirkungen der Kartoffelfäule sicher waren. Die Verpflegung war knapp, es gab zu wenig sauberes Wasser und die Ansteckungsgefahr in den überfüllten Schlafräumen war so groß, dass man sich jederzeit eine Krankheit einfangen und sterben konnte. Sie wurden wie Verbrecherinnen behandelt, die nur darauf warteten, von einem Schiff auf eine Sträflingsinsel gebracht zu werden.
Sie würden in die Freiheit segeln, nach Amerika. Das Land, von dem alle mit größter Hochachtung sprachen, weil man dort allen Menschen die gleichen Chancen einräumte. Selbst ein Bettler konnte dort zum Millionär werden, wenn er sich anstrengte. So erzählte man sich jedenfalls. Man wurde nicht nach seinem Stand oder seiner Vergangenheit, sondern nur nach dem beurteilt, was man tatsächlich leistete. Dort würde ihr neues Leben beginnen, an der Seite eines Mannes, der sie achtete und ehrte und von Herzen liebte.
Sie schlang die Arme fest um den Oberkörper und merkte gar nicht, wie Ellen neben sie trat. »Hey«, begrüßte sie die junge Frau. »Ich hoffe, du hast das Brot dabei.«
Molly reichte ihr die Scheibe so, dass die Hausmutter es nicht sehen konnte. Ellen schob ihre Beute in die Tasche und lächelte zufrieden. »Wann?«, fragte Molly ungeduldig. »Du willst mich doch nicht reinlegen? Wenn das alles ...«
»In ein paar Tagen sage ich dir Bescheid.«
»In ein paar Tagen?«
»Schneller geht es nicht. Mein Alter muss erst mit deinem Alten reden, das dauert eine Weile. Oder meinst du, ich gehe im Männerblock ein und aus?«
»Zuzutrauen wär’s dir.«
»Witzbold!«
Molly kehrte zu ihrer Schwester und ihrer Mutter zurück. Sie standen im Schatten der Außenmauer, wo sie am besten gegen den frischen Wind geschützt waren. Im Tageslicht wirkte ihre Mutter noch blasser und verletzlicher. Sie wog höchstens noch halb so viel wie vor der ersten Kartoffelfäule.
»Hast du eine neue Freundin?«, fragte Fanny neugierig.
»Ellen ... ihr Mann lebt auf der anderen Seite der Mauer.«
»So wie Bryan. Weiß sie, wie es ihm geht?«
Molly zuckte mit den Schultern. »Sie kennt jemanden, der im Männerblock zu tun hat. Den Arzt oder die Schwester, nehme ich an. Sie will mir sagen, wie es Bryan geht.« Mit der ganzen Wahrheit wollte Molly nicht herausrücken.
Sie blickte zur Tür und zog verwundert die Augenbrauen hoch. »Wo ist denn die Hausmutter?« Ihr war gar nicht aufgefallen, dass Mary McDowell verschwunden war. »Die Nervensäge lässt uns doch sonst nicht aus den Augen.«
»Keine Ahnung«, erwiderte Fanny.
»Sie ist ins Haus gerufen worden«, wusste ihre Mutter.
Als hätte die Hausmutter sie gehört, erschien sie im nächsten
Weitere Kostenlose Bücher