Am Ufer der Traeume
von der Schulter. Seltsamerweise hatten weder die Hausmutter noch der Master etwas dagegen eingewendet, dass sie die Tasche mitgenommen hatte.
»Wartet hier«, sagte Molly, »ich sehe in den Höhlen und in seinem Camp am Wasserfall nach. Wir bringen Fleisch und frische Beeren und Kräuter mit. Bis spätestens morgen früh bin ich zurück. Bekommt ihr ein Feuer in Gang?«
Fanny nickte nur. »Und wenn Bryan nicht da ist?«
»Wo soll er denn sonst sein?«, erwiderte Molly barsch.
Sie machte sich auf den Weg. Die Sonne hatte sich zwischen den Wolken hindurchgeschoben und vertrieb die dunklen Schatten von den Wiesen, ließ sie in dem satten Grün erstrahlen, das so typisch für die warme Jahreszeit in Irland war. Sie folgte dem schmalen Pfad, den sie beim ersten Mal gegangen war, und blickte immer wieder zu den Felsen empor, die sich in den Ausläufern des Croagh Patrick aus dem hügeligen Land erhoben. Irgendwo dort oben musste Bryan sein, wenn nicht in einer Höhle, dann in seinem Camp. Der Gedanke, dass er gar nicht dort sein könnte, kam ihr nicht in den Sinn.
Umso enttäuschter war sie, als sie unterhalb der Höhlen stand, mehrmals laut seinen Namen rief und keine Antwort erhielt. Außer einigen Wachteln, die sich verschreckt aus einem Gebüsch erhoben, regte sich nichts. Ein Bussard, der über den Höhlen seine Kreise zog, ließ sich nicht aus der Ruhe bringen. Nur wenige Schritte vor ihr huschte ein Eichhörnchen über den Pfad und kletterte blitzschnell an einem Baum hinauf. Selbst Bryan hätte das Tierchen nicht mit einem Stein erwischt, dazu war es viel zu flink. Am Wegesrand auf einem Felsbrocken verharrte eine Eidechse in der Gewissheit, rechtzeitig im dichten Unterholz verschwinden zu können, falls es jemand auf sie abgesehen hatte.
Sie rief noch einmal, wieder vergeblich. Diesmal antwortete ihr nur der Wind, ein laues Lüftchen, das leise in den Baumkronen rauschte. Er ist in seinem Camp, tröstete sie sich, nach der Schneeschmelze, als man in den Bergen wieder einigermaßen laufen konnte, ist er an den Wasserfall zurückgekehrt. Dort war er schon vor den schweren Schneestürmen am sichersten.
Im Schatten der Felswände lag immer noch Schnee, als sie den Waldrand und den steilen Pfad erreichte, der zu seinem Camp hinabführte. Das Rauschen des Wasserfalls übertönte alle anderen Geräusche. Ihr Herz klopfte rasend schnell, nicht so sehr vor Anstrengung, mehr vor Aufregung, ihren geliebten Bryan schon in wenigen Augenblicken wiederzusehen. »Bryan!«, rief sie. »Bryan! Ich bin’s, Molly!« Doch als sie nur noch wenige Schritte von der Lichtung entfernt war und keine Antwort erhielt, wurde ihre Vorfreude von beklemmender Angst abgelöst, die sich wie eine eiserne Klammer um ihre Brust legte und ihr die Luft abzuschnüren drohte. »Bryan!«, flüsterte sie.
Sie betrat die Lichtung und verharrte im Schatten der Bäume am Waldrand. Das helle Sonnenlicht spiegelte sich in dem Becken unterhalb des Wasserfalls, in dem schmalen Bach und auf dem Schnee, der an einigen Stellen liegen geblieben war. Eine Forelle sprang aus dem sprudelnden Wasser, glitzerte für einen Sekundenbruchteil im Sonnenlicht und tauchte wieder unter.
Ein Unterschlupf oder eine notdürftig errichtete Hütte waren nicht zu sehen. Selbst die Spuren des Schneesturms waren kaum noch zu erkennen. Wieder ließ sich ein Eichhörnchen blicken, witterte sie und rannte hastig davon. »Bryan!«, wollte sie rufen. Es reichte wieder nur zu einem Flüstern. Sie räusperte sich und versuchte es noch einmal, diesmal lauter. »Bryan! Bryan!«
Sie lief zu der Stelle, an der seine Hütte gewesen war, und fand nur abgebrochene Äste und verfaultes Laub. Mit feuchten Augen stolperte sie durch den Wald, suchte überall nach ihm, stieß in dem Halbdunkel gegen einen Baum und lief weiter. »Bryan! Bryan! Ich bin’s, Molly! Wo bist du, Bryan?«
Keine Antwort, nur das sanfte Rauschen des Windes.
»Bryan, verdammt! Bryan!«
Sie kehrte auf die Lichtung zurück und sank enttäuscht zu Boden, vergrub ihr Gesicht in den Händen und weinte verzweifelt. Bryan hatte sie verlassen. Er war ohne sie nach Dublin gegangen und vielleicht längst nach Amerika unterwegs. Sie würde ihn niemals wiedersehen! Die Erkenntnis traf sie so plötzlich und schmerzhaft, dass sie zu keinem vernünftigen Gedanken mehr fähig war und nur noch weinte, gar nicht merkte, wie die Sonne immer tiefer sank und bereits die ersten dunklen Schatten auf die kleine Lichtung fielen.
Das laute
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