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Am Ufer der Traeume

Am Ufer der Traeume

Titel: Am Ufer der Traeume Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Jeier
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Krächzen einer Krähe riss sie aus ihren Gedanken. Sie sah den schwarzen Vogel auf einem Ast sitzen und musste lachen, wenn auch nur kurz. »Du hast ja recht«, sagte sie schniefend, »mein Gejammer bringt ihn auch nicht zurück. Ich sollte besser an Fanny und meine Mutter denken, die brauchen mich jetzt. Wir schaffen es auch allein. Den Satz habe ich von meiner Mutter, den hat sie schon gesagt, als mein Vater uns verlassen hat.« Sie rieb sich die Tränen aus den Augen. »Schon gut, ich heule nicht mehr.« Sie wischte sich mit dem Ärmel übers Gesicht und putzte sich die Nase. »Siehst du, ich bin ein tapferes Mädchen. Ich weine einem Mann nicht hinterher. Ich dachte, es gibt tatsächlich so was wie wahre Liebe, aber ...« Sie schluchzte ein paarmal, fing sich aber wieder. »... er ... er mochte mich wohl nicht genug.«
    Sie trank vom kühlen Wasser des Baches und aß von den Beeren, die jetzt schon an einigen Sträuchern wuchsen, dann kletterte sie über den Pfad zurück. Die Krähe verzichtete darauf, ihre entschlossenen Worte zu kommentieren, nur das Rauschen des Wasserfalls begleitete sie nach oben. Am Waldrand entlang stieg sie ins Tal hinab. Es wurde schnell dunkel, auch jetzt im Frühjahr, und sie war froh, endlich die breite Wagenstraße zu erreichen und wieder festen Boden unter den Füßen zu haben. Nachdem sie ihre Schuhe von dem Morast befreit hatte, der während des Marsches in die Berge an ihnen kleben geblieben war, lief sie zu ihrem Lagerplatz auf der Lichtung zurück.
    »Ich bin’s, Molly«, rief sie, bevor sie in den Feuerschein trat.
    Fanny und ihre Mutter hatten sich bereits in ihre Decken gerollt, schreckten aber sofort hoch, als sie ihre Stimme hörten. »Molly!«, rief ihre Mutter. »Wir dachten schon, du kommst überhaupt nicht mehr. Wo warst du so lange?« Sie hatte noch nicht geschlafen. »Und wo ist Bryan? Er ist doch nicht ...«
    »Er war nicht da«, erwiderte sie.
    »Bryan?« Fanny rieb sich den Schlaf aus den Augen. »Nicht da?«
    »Weder in den Höhlen noch in seinem Versteck.« Molly breitete ihre Decke neben dem Feuer aus und setzte sich darauf. »Ich habe überall gesucht.«
    »Vielleicht wartet er in Dublin auf uns«, sagte Rose Campbell.
    »Oder in Liverpool«, ergänzte Fanny.
    Molly rollte sich in ihre Decken und drehte ihnen den Rücken zu. »Ihr braucht mich nicht zu trösten. Ich weiß, dass ich ihn verloren habe. Vielleicht hat ihn nur der Hunger weitergetrieben oder sie haben ihn erwischt, wie er Hühner stahl, oder ...« Sie weinte leise. »Vielleicht ist er schon in Amerika.«
    »Gib die Hoffnung nicht auf«, sagte ihre Mutter.
    »Vergiss ihn!«, erwiderte Fanny.

14
    Schon nach zwei Tagen hatte Molly das Gefühl, einen großen Fehler begangen zu haben. In der Hoffnung, Bryan zu treffen, hatten sie das Arbeitshaus viel zu früh verlassen und waren beinahe so schlimm dran wie vor einigen Monaten, als sie ausgezehrt und halb verhungert um Einlass gebeten hatten. Die Beeren an den Sträuchern waren noch lange nicht reif und die wenigen Wurzeln, Zwiebeln und Kräuter, die sie abseits der Wagenstraße fanden, linderten ihren Hunger kaum. Ihre Mutter war so schwach, dass sie noch keine zehn Meilen geschafft hatten. Wenn sie dieses Tempo beibehielten, würden sie Wochen, vielleicht sogar Monate für die Reise nach Dublin brauchen.
    Auch die leicht gekrümmte Astgabel, die ihre Mutter inzwischen als Krücke benutzte, brachte sie nicht schneller voran. Die entbehrungsreichen Monate im Arbeitshaus hatten sie mehr geschwächt, als Molly und Fanny angenommen hatten. Die Vergünstigungen, die Fanny für sie herausgeschlagen hatte, und das Essen, das sie mit ihr geteilt hatten, waren nicht genug gewesen, um ihre Abwehrkräfte zu stärken und sie auf einen so langen und anstrengenden Marsch vorzubereiten. Sie wirkte wieder ausgelaugt und erschöpft und hustete manchmal so stark, dass ihre Töchter schon befürchteten, sie wäre an Keuchhusten oder einem anderen schweren Leiden erkrankt. Das frische Wasser, das sie aus einem nahen Fluss schöpften, und die kargen Mahlzeiten, die ärmlicher als im Arbeitshaus ausfielen, reichten nicht aus.
    Die warme Frühlingssonne konnte nicht darüber hinwegtäuschen, dass sie sich in einem sterbenden Land befanden. Waren sie im Arbeitshaus beim Anblick der Sonne noch voller Hoffnung und Zuversicht gewesen, mussten sie außerhalb der Mauern erkennen, dass selbst ihr warmes Licht nicht in der Lage war, das unsagbare Leid erträglicher zu machen. Im

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