Am Ufer der Traeume
Gegenteil, ihre hellen Strahlen ließen es noch wirklicher erscheinen, hoben den Schmerz und die Sorgenfalten in den Gesichtern der müden Wanderer, denen sie begegneten, noch deutlicher hervor. Nur wenn die Sonne hinter den Wolken verschwand, legten sich gnädige Schatten über die Toten und Erschöpften am Wegesrand.
Mühsam schleppten sie sich nach Osten. Wie ein endloses Band zog sich die Wagenstraße über die sanften Hügel bis zum fernen Horizont. Das leuchtende Grün der Wiesen stand im krassen Gegensatz zu ihrer gedrückten Stimmung. Der Anblick der Toten legte sich schwer auf ihre Seelen, und das verzweifelte Stöhnen der Kranken, die sich oftmals nur auf allen Vieren fortbewegten, zerrte an ihren Nerven. Während der ersten Meilen hatten sie noch versucht, ihnen zu helfen oder wenigstens gut zuzureden, aber inzwischen gingen sie, ohne sie zu beachten, an ihnen vorbei, waren sie genauso abgestumpft wie die wenigen anderen Gesunden, die Richtung Dublin unterwegs waren.
Am Abend des dritten Tages schlugen sie ihr Lager am Ufer eines Baches auf, nur wenige Schritte unterhalb eines Feldweges, der von der Hauptstraße abzweigte und sich zwischen einigen brachliegenden Feldern verlor. In weiter Ferne waren das Haus und der Schuppen einer Farm zu erkennen. Molly gelang es nach etlichen Versuchen, mit bloßen Händen eine Forelle aus dem Bach zu fischen, und sie feierten die köstliche Mahlzeit an einem kleinen Feuer. Wie tief waren sie gesunken, dachte Molly, dass sie schon eine kleine Forelle, die sie auch noch durch drei teilen mussten, in Hochstimmung versetzen konnte.
Wie in jeder Nacht wechselten sie sich auch diesmal mit der Wache ab. Aus Angst vor Wegelagerern und Strauchdieben und weil es immer noch kühl war und jemand Holz nachlegen musste, hatten sie sich angewöhnt, ihren Lagerplatz zu bewachen. Die Not war inzwischen so groß, dass manche Reisende schon wegen eines Essnapfes oder einer Decke überfallen worden waren. Und zwei junge Frauen weckten noch ganz andere Begehrlichkeiten, obwohl die meisten Männer zu erschöpft waren, um an so etwas zu denken.
Um kurz nach Mitternacht, wenn man der Glocke im Kirchturm eines nahen Dorfes glauben durfte, wurde Molly durch ein Geräusch geweckt. Sie schreckte hoch und sah, dass ihre Mutter ebenfalls aufgewacht war und Fanny im Schatten eines Baumes stand und neugierig zum Feldweg hinaufblickte. Im hellen Licht des vollen Mondes und der Sterne war ein Pferdefuhrwerk zu erkennen, ein einfacher Pritschenwagen, der von einem stämmigen Ackergaul gezogen wurde und sich ihnen langsam näherte. Der Kutscher, ein Mann mit einem breitkrempigen Hut, gab sich anscheinend große Mühe, möglichst wenige Geräusche zu verursachen, und trieb sein Pferd beinahe flüsternd an. Nur das Knirschen der Räder auf dem hart gefrorenen Boden war zu hören.
»Ein Fuhrwerk«, warnte Fanny mit gedämpfter Stimme, »von der Farm. Auf dem Kutschbock sitzt ein Mann. Möchte wissen, warum der zu dieser späten Stunde durch die Gegend fährt. Der hat bestimmt was zu verbergen.«
»Zum Weglaufen oder Verstecken ist es zu spät«, erwiderte Molly, »der hat doch längst unser Feuer gesehen.« Sie stand auf und trat neben ihre Schwester, ihre Wolldecke fest um die Schultern geschlungen. Im Mondlicht war der Mann jetzt deutlicher zu erkennen. So wie er auf dem Kutschbock saß, war er in mittleren Jahren. Er trug eine dicke Wolljacke. »Vielleicht hält er gar nicht an.«
»Der hält ... dafür werde ich schon sorgen.«
Molly erschrak. »Was hast du vor?«
»Lass mich nur machen.«
Bevor Molly ihre Schwester zurückhalten konnte, war sie bereits zum Feldweg unterwegs. Sie kletterte die Böschung hinauf, richtete ihr Kleid, das sie im Arbeitshaus selbst gewaschen hatte, und fuhr sich mit gespreizten Fingern durch die langen Haare, als hätte sie der Mann auf dem Kutschbock zu einem Scheunentanz eingeladen. »Was hast du vor?«, rief Molly ihr nach. »Du weißt doch gar nicht, wer das ist! Mach bloß keinen Unsinn, hörst du?«
Mit gemischten Gefühlen beobachtete Molly, wie der Kutscher einen Fuß gegen das Trittbrett stemmte und die Zügel anzog. Er schob seinen Hut in den Nacken und blickte missmutig auf Fanny herab. »Was soll das?«, fuhr er sie an. Er deutete auf das Feuer. »Hat euch jemand erlaubt, hier zu lagern?«
»Es war niemand hier, den wir fragen konnten«, erwiderte Fanny. Wenn sie mit einem Mann sprach, den sie beeindrucken wollte, klang ihre Stimme anders, heller und
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