Am Ufer der Traeume
Farmer und ihre Familien, die man von ihren Höfen vertrieben hatte, in die Stadt, einige mit Wagen, die meisten zu Fuß. Armselige Gestalten, in Lumpen gekleidet und die Augen stumpf und leer vom Anblick der unzähligen Toten und Kranken, die sie auf ihrer entbehrungsreichen Wanderung in die Hauptstadt gesehen hatten. Sie hatten es bis hierher geschafft und wollten nur noch weg, mit dem Schiff nach Liverpool und von dort nach Amerika oder Kanada. In Irland gab es keine Zukunft mehr für sie.
Mehr aus Zufall stießen Molly, Fanny und ihre Mutter auf die St. Teresa’s Church, ein tempelartiges Gebäude aus farblosen Granitsteinen, eingezwängt zwischen mehrstöckigen Wohnhäusern in einer schmalen Seitenstraße und auffällig vor allem durch ein Fenster über dem Eingang, das wie eine riesige steinerne Blüte mit selbst im fahlen Tageslicht bunt schimmernden gläsernen Blättern in den Stein eingelassen war. Aus dem Inneren erklang Orgelmusik.
Molly öffnete die schwere Tür und ließ ihrer Schwester und ihrer Mutter den Vortritt. Die Musik schallte ihnen vielstimmig entgegen. Sie tauchten ihre Hände ins Weihwasser, bekreuzigten sich und knieten vor dem Altar nieder. Auf prachtvollen Säulen ruhende Bögen schützten den Gekreuzigten und die mosaikartigen Fenster. In leuchtenden Farben erzählten die Bilder von dem entbehrungsreichen Weg des Jesus von Nazareth, dessen Leidensgeschichte nach den Schicksalsschlägen der vergangenen Jahre eine neue Bedeutung für sie erhalten hatte. Wie viele Iren zweifelten auch die Campbells an ihrem Herrgott und suchten nach der Antwort auf die Frage, die alle bewegte: Wie konnte er solches Leid zulassen? Warum schickte er so viele Menschen in den Tod?
Während Fanny sich absonderte und das tat, was ihre Mutter von ihr verlangt hatte, wandte sich Molly mit einem beinahe wütenden Gebet an Gott, das mit den Worten endete: »Die letzten Monate waren nicht einfach, o Herr. Wir mussten zusehen, wie der Mittelsmann und seine Schergen unsere Farm anzündeten, und erlebten auf der Wanderschaft, aber auch im Arbeitshaus, welches große Leid die Hungersnot hervorgerufen hat. Wir haben die toten Kinder am Wegesrand gesehen und mussten weinen, als Bridget ihren kleinen Sohn verlor und vor lauter Kummer freiwillig in den Tod ging. Wir haben um die Gesundheit unserer Mutter gefürchtet und verzagten auch dann nicht, als wir das Arbeitshaus verließen und Bryan nicht auf uns wartete. Wir lassen uns nicht unterkriegen, o Herr! Wir haben es bis Dublin geschafft und werden auch nach Liverpool und nach Amerika kommen. Ich weiß, wir hatten es besser als viele andere Menschen in unserer Heimat, und dafür danke ich dir. Du hast einen Teil unserer Gebete erhört, das ist mehr, als wir in diesen schweren Zeiten erwarten durften. Vielleicht bin ich unverschämt, aber ich möchte dich noch um zwei weitere Dinge bitten: Bitte sei nicht böse auf Fanny, sie hatte nur unser Wohl im Sinn, als sie diesem Farmer schöne Augen machte. Und sorge bitte dafür, dass Bryan zu mir zurückkehrt. Ich vermisse ihn so sehr.«
Sie hatte die Worte nur geflüstert, fügte ein lauteres »Amen« hinzu und kniete erneut nieder. Als sie sich erhob, bemerkte sie, wie ihre Mutter sich bekreuzigte und zu Jesus aufblickte. Von den Beichtstühlen kehrte Fanny zurück, ein geheimnisvolles Lächeln auf den Lippen, das nicht verriet, ob sie tatsächlich gebeichtet oder ihrer Mutter nur einen Gefallen getan hatte.
Nachdem sie die Kirche verlassen hatten, fühlte sich vor allem Rose Campbell besser. Als hätte es nur eines Gebetes und Fannys Beichte bedurft, um alle Verfehlungen und alles Leid abzuschütteln, lief sie wie befreit neben ihren Töchtern her. Sie folgten den vielen anderen Heimatlosen, die nach Dublin gekommen waren, zum Hafen, der östlich der Stadt lag und in diesen schweren Zeiten zu den begehrtesten Orten in Irland gehörte. Unterwegs kamen sie an einer Kutschenfabrik, in der eifrig gehämmert und gesägt wurde, und zahlreichen Agenturen vorbei, die Passagen nach Liverpool verkauften.
Sie standen gerade vor einer solchen Agentur, als Molly eine Kutsche auf der anderen Straßenseite entdeckte und ihren Augen nicht zu trauen glaubte. Hinter dem offenen Fenster erkannte sie das Gesicht eines Mannes, den sie am allerwenigsten in dieser Gegend erwartet hätte und dem sie auf keinen Fall in die Arme laufen wollte. Geistesgegenwärtig stieß sie die angelehnte Haustür der Agentur auf und schob ihre Mutter und ihre
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