Am Ufer der Traeume
Schwester in den düsteren Hausgang. »Schnell! Weg hier!«, drängte sie die beiden. Sie ließ die Tür hinter sich zufallen und sank erschöpft gegen die verputzte Steinwand.
Fanny blickte sie erstaunt an. »Hey, was soll das? Du tust ja gerade so, als wäre der Teufel hinter uns her!«
»Schlimmer«, antwortete Molly. »James Whitmore! Der Mittelsmann!«
»Der Mann, der unsere Farm niedergebrannt hat?«
Molly blickte sich ängstlich um, immer noch in Sorge, der Mann könnte sie gesehen haben und würde gleich die Tür öffnen. »In der Kutsche, die gerade vorbeifuhr. Mit einem anderen Mann, sicher ein hohes Tier!« Sie drehte sich erneut um, aber niemand kam. Whitmore hatte sie nicht gesehen.
»Bist du sicher?«, fragte ihre Mutter. Auch sie hatte Angst.
»Ich hab ihn deutlich erkannt. Die Vorhänge seiner Kutsche standen offen und er rief gerade dem Kutscher was zu. Das war er! Der verdammte Dreckskerl, der uns von der Farm vertrieben und unser Haus niedergebrannt hat!«
»Molly!«, mahnte ihre Mutter.
»Aber das ist er, ein gemeiner Dreckskerl!« Sie senkte ihre Stimme. »Wir dürfen uns auf keinen Fall von ihm erwischen lassen, sonst denkt er sich eine neue Gemeinheit aus. Lässt uns die Schulden abarbeiten oder wir landen für ein paar Monate im Kerker. Oder er schickt uns auf die Sträflingsinsel!«
»Dazu hat er doch gar keinen Grund«, sagte Fanny.
»Den braucht er nicht.«
Eine der Türen ging auf, ein flackernder Lichtstreifen fiel in den Flur und ein junger Mann streckte seinen Kopf zur Tür heraus. »Schönen guten Tag, meine Damen! Wollen Sie zu uns? Möchten Sie eine Schiffspassage buchen? Das nächste Schiff nach Liverpool legt in zwei Stunden ab. Wie sieht es aus, meine Damen? Einen billigeren Preis als unsere Agentur bietet Ihnen keiner.«
Fanny wechselte einen raschen Blick mit Molly und ihrer Mutter, dann setzte sie ihr verführerisches Lächeln auf und wandte sich an den Agenten. »Gerne«, erwiderte sie. »Ich nehme mal an, Sie machen uns einen besonders günstigen Preis. Wir mussten in letzter Zeit viel Leid erfahren, wissen Sie, und auf ein paar Pennies dürfte es einem Mann von Welt, wie Sie einer sind, doch nicht ankommen. Mein Name ist übrigens Fanny ... Fanny Campbell.«
»Walter O’Leary«, antwortete er. »Nennen Sie mich Walter.«
»Gern, Walter. Ich fühle mich geehrt.«
Fanny war wieder in ihrem Element. Mit ihrem Charme und ihrem unwiderstehlichen Lächeln zog sie den Agenten in ihren Bann und überredete ihn, ihr die Tickets zu einem verbilligten Preis zu verkaufen. Zum Abschied ließ sie ihre Hand scheinbar zufällig auf seinem Oberarm ruhen und lächelte ihm so verführerisch zu, dass er wie ein verliebter kleiner Schuljunge rot anlief.
»Weißt du was?«, sagte Molly, als sie auf dem Weg zum Hafen waren und bereits das Rauschen des Meeres hören konnten. »Manchmal bekomme ich richtig Angst vor dir. Nur gut, dass ich deine Schwester und kein Mann bin.«
16
Molly stand an der Reling, als sie sich dem Hafen von Liverpool näherten, und blickte staunend auf die vielen Segelschiffe an den Landungsstegen. Ein Gewirr von Masten erhob sich vor den niedrigen Verwaltungsgebäuden. Die meisten dieser Schiffe waren größer als der Schoner, mit dem sie aus Dublin gekommen waren, und wirkten so majestätisch, dass man bei ihrem Anblick unwillkürlich an eine stürmische See und fremde Kontinente denken musste. Mit solchen Segelschiffen waren die großen Entdecker um die Welt gesegelt.
Die Stadt lag im morgendlichen Dunst und wirkte mit ihren eng beieinanderstehenden Gebäuden beinahe unheimlich. Aus dem Häusermeer ragten die massiven Türme einiger Kirchen empor. Auf den ersten Blick keine besonders schöne Stadt, genauso wenig wie Dublin, aber Molly hatte bisher nur auf dem Land gelebt und musste sich an die geschäftigen Großstädte erst gewöhnen. New York sollte doppelt so groß wie Dublin sein, lange nicht so groß wie London, aber immer noch gigantisch, ein erschreckender Gedanke, wenn sie daran dachte, wie beeindruckt und auch erschrocken sie beim Anblick der irischen Hauptstadt gewesen war. Ein Blick auf Fanny und ihre Mutter, die ebenfalls an Deck gekommen waren, verriet ihr, dass sie ähnliche Gedanken beschäftigten. Sie waren im Begriff, einen Riesenschritt zu machen.
»Irgendwie tut es auch weh, die Heimat zu verlassen«, sagte Rose Campbell. Bis sie in die Mündung des River Mersey gesegelt waren, hatte sie am Heck gestanden und unentwegt auf das offene
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