Am Ufer der Traeume
übermütig wie immer, wenn sie einem Mann das Gefühl geben wollte, nur für ihn da zu sein, und erst als sie auf den Wagen kroch und sich unbeobachtet glaubte, verschwand ihr Lächeln und sie verzog geringschätzig das Gesicht. Molly beobachtete sie heimlich, sagte aber nichts und schloss die Augen.
Über Dublin wölbte sich ein bedeckter Himmel, als sie am Stadtrand vom Wagen kletterten und sich von dem Farmer verabschiedeten. Immerhin hatte er sie davor bewahrt, wochenlang über die holprige Wagenstraße zu wandern und Gefahr zu laufen, sich eine der tödlichen Krankheiten einzufangen. Ohne ihn wäre ihre Überlebenschance sehr gering gewesen, vor allem Rose Campbell wäre ohne das kräftige Essen wohl noch schwerer erkrankt. Diese Erkenntnis ließ auch Molly und ihre Mutter die Hand des Farmers schütteln, und beide verkniffen sich eine Bemerkung, als er Fanny mitten auf der Straße umarmte und auf den Mund küsste. »Du bist eine prachtvolle Frau!«, sagte er.
Erst als der Farmer verschwunden war und sie allein auf der breiten Straße standen, gelang es Rose Campbell nicht länger, ihre Fassung zu bewahren. »Muss ich mir Sorgen machen?«, fragte sie Fanny vorwurfsvoll. »Hast du dich diesem Mann etwa hingegeben? Oder warum grinst er so schmutzig?«
Fanny wischte sich angewidert den Speichel des Farmers von den Lippen und schüttelte den Kopf. »Meinst du, ich gestatte einem solchen Scheusal, mir meine Jungfräulichkeit zu nehmen? Nein, Mutter. Ich war nett zu ihm, das ist alles. Es gibt andere Möglichkeiten, einen Mann wie ihn zufriedenzustellen. William war doch schon froh, dass sich überhaupt jemand um ihn gekümmert hat, oder meinst du, er findet noch mal eine Frau? Nicht mal seine eigene würde ihn wieder nehmen.« Sie schlug triumphierend gegen ihre Kleidertasche. »Außerdem hat es sich gelohnt.« Sie hielt einen Beutel hoch. »Ich habe Vorräte und das Geld für die Passagen nach Liverpool habe ich auch.«
»Du hast dich bezahlen lassen?« Ihre Mutter war außer sich.
»Es ist ein Geschenk«, erwiderte sie schnell. Sie ließ die Hand mit dem Beutel sinken. »Sollte ich die Vorräte etwa ablehnen? Brot und Speck? Das Geld für die Tickets? Wie wolltet ihr denn sonst nach Liverpool kommen?«
»Wir hätten einen Weg gefunden.«
»Wie denn? Und wie lange hätte das gedauert?«
»Man lässt sich nicht von einem Mann bezahlen«, beharrte Rose Campbell auf ihrer Meinung. Sie hatte wohl mehr gesehen, als Molly vermutet hatte. »Nur die leichten Mädchen im Hafen verlangen Geld für ihre Liebesdienste.«
»Ich bin keine Hure!«
»Das wissen wir doch, Fanny«, schaltete sich Molly ein, obwohl ihr der Gedanke selbst schon gekommen war. »Und die Vorräte und die Tickets können wir gut gebrauchen.« Sie legte ihrer Mutter einen Arm auf die Schulter. »Fanny ist eine anständige Frau, Mutter. Sie ist nur ein wenig ... leichtsinnig.«
»Sie macht den Männern schöne Augen! Im Arbeitshaus beim Master und auf dem Weg nach Dublin bei William. Ich weiß, dass sie es nur für mich ... dass sie es für uns getan hat, aber deswegen brauche ich es noch lange nicht zu billigen. Lieber sterbe ich in Armut, als dass meine Tochter ihre Unschuld für ein paar lumpige Pennies an einen ...« Sie führte den Satz nicht zu Ende.
»Ich bin noch Jungfrau, Mutter! Du kannst gerne nachsehen.«
Ihre Mutter wischte die Antwort mit einer Handbewegung beiseite. »Du hast gesündigt, Fanny. Du hast es vielleicht aus guter Absicht getan, aber das macht es nicht besser. Ich erwarte von dir, dass du diese Sünden beichtest.«
»Wenn es dich glücklich macht, Mutter.«
»Es macht unseren Herrgott glücklich.«
Sie brauchten zwei Stunden, um das Stadtzentrum zu erreichen, blieben immer wieder stehen und waren beeindruckt von den riesigen, manchmal vier- oder fünfstöckigen Häusern und dem regen Verkehr auf den Straßen. Hauptsächlich Kutschen und Fuhrwerke und von Pferden gezogene Omnibusse, aber auch einzelne Reiter und zahlreiche Fußgänger bevölkerten das unübersichtliche Gewirr von Straßen, das sich nördlich und südlich des River Liffey ausbreitete und durch Brücken wie die Ha’penny Bridge und die Carlisle Bridge verbunden war. In der Sackville Street erinnerte eine eindrucksvolle Säule an Horatio Nelson, einen der berühmtesten Seefahrer der Royal Navy.
Die Campbells waren nicht die einzigen Flüchtlinge, die sich in Dublin tummelten. Aus allen Teilen des Landes kamen die Opfer der Kartoffelfäule, vor allem
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