Am Ufer der Traeume
gesprochen, warf einen Blick in das Auftragsbuch und sagte: »Unter dir haben die Näherinnen tatsächlich besser gearbeitet, Molly. Nur eines missfällt mir sehr: Du hast keine einzige Lohnkürzung ausgesprochen, im Gegenteil, du hast dieser Mary O’Shannon sogar die Tage bezahlt, an denen sie gefehlt hat. Das geht nicht.«
»Der Umsatz ist gestiegen, Mister Silverstein!«
»Und er könnte noch höher sein, wenn du strenger wärst und die Näherinnen, die gegen die Regeln verstoßen, mit einer Geldstrafe belegen würdest.«
»Die Frauen und Mädchen geben ihr Bestes, Sir.«
»Und sie lassen sich nichts zuschulden kommen?«
»Nicht, wenn man sie gut behandelt, Mister Silverstein. Ich habe oft genug eine Geldstrafe bekommen und weiß, was es heißt, mit weniger Geld auskommen zu müssen. Wenn meine Schwester und ich nicht zu zweit wären, hätten wir Ihre Miete niemals zahlen können. Wir brauchen keine Strafen.«
»So, so ... und wer bist du, dass du so was entscheiden kannst?«
»Ich war die Aufseherin.«
»Du warst ...?«
»Ja, Sir.« Molly reagierte ruhig und gefasst. »Sie wollen, dass Ihre Näherinnen schneller arbeiten, wollen aber auch Geldstrafen verhängen, um weniger Lohn zahlen zu müssen. Dafür bin ich die falsche Frau. Ich nehme an, Mrs. Anderson würde sich freuen, ihren alten Posten wiederzubekommen.«
»So ist das also! Du meinst wohl, du könntest dir alles erlauben?«
»Nein, Sir. Aber ich bin keine Ausbeuterin.«
»Ausbeuterin? Was fällt dir ein, du kleines Miststück?« Die Stirnadern des Vermieters schwollen gefährlich an. »Du bist gefeuert, Molly ... Molly ...«
»Molly Campbell, Sir«, half sie ihm auf die Sprünge.
Sie stand auf, ging an ihren verdutzten Kolleginnen vorbei, verabschiedete sich von Silverstein mit einem Kopfnicken und verließ den Raum. Erst auf der Straße, in sicherer Entfernung von der Nähstube, begann sie zu weinen.
21
Am Ufer des Hudson River blieb Molly stehen. Sie stützte sich auf das eiserne Geländer und blickte über den Fluss, auf die vielen Schiffe, die mit gerefften Segeln an den Piers lagen, und die Flussdampfer weiter flussaufwärts. In der Ferne war der neue Castle Garden zu erkennen, ein mächtiger Rundbau, in dem Konzerte und andere Veranstaltungen stattfanden. Vor zwei Jahren hatte dort Jenny Lind gesungen, die berühmte »schwedische Nachtigall«.
Doch selbst die glockenklare Stimme der schwedischen Sängerin hätte Molly in diesem Augenblick nicht trösten können. Das Gefühl, sich nicht für die Profitgier des Mister Silverstein hergegeben und ihm endlich mal die Meinung gesagt zu haben, erfüllte sie mit tiefer Zufriedenheit und sie musste bei dem Gedanken an ihren mutigen Abgang sogar lächeln. Doch gleichzeitig wurde ihr bewusst, dass sie ohne Arbeit dastand und sich an zehn Fingern ausrechnen konnte, wann Silverstein ihr das Zimmer kündigen würde. Er gehörte nicht zu den Männern, die sich ungestraft von einer jungen Frau demütigen ließen. Einen Posten als Aufseherin in einer seiner vielen Nähstuben hatte bestimmt noch niemand abgelehnt. Selbst Martha Anderson hatte als gewöhnliche Näherin angefangen und nichts dabei gefunden, ihre früheren Kolleginnen zu beschimpfen und mit empfindlichen Geldstrafen zu belegen.
Molly hätte es niemals fertiggebracht, einer Näherin die Hälfte ihres Lohns abzuziehen und sie an den Rand des Ruins zu treiben, nur weil sie erkrankt oder ein paar Minuten zu spät gekommen war. Und selbst wenn ihre Näherinnen alle aus England gekommen wären, hätte sie sich nicht dazu hinreißen lassen, sie so zu beleidigen, wie es Martha Anderson getan hatte. Auch als wohlhabende Frau würde sie ihre Untergebenen stets respektvoll behandeln, so viel wusste sie. Kein Mensch war mehr wert, nur weil er mehr Geld besaß.
Doch ohne Geld hatte man es schwerer. Das erfuhren zahlreiche Einwanderer, die vergeblich nach Arbeit gesucht hatten und gezwungen waren, in die alte Heimat zurückzukehren. Vor allem alleinstehende Frauen, die während der Überfahrt ihren Mann verloren hatten. Aber sie würde niemals nach Irland zurückfahren. Sie würde sich durchbeißen, auch wenn sie im Augenblick nur ein paar Dollar besaß. Sobald Bryan auftauchte, würde sie New York verlassen und mit ihm in den goldenen Westen ziehen. Dort lag das wirkliche Amerika, wie sie von unzähligen Leuten gehört hatte, dort lag das Paradies, von dem sie in Irland geträumt hatten. »Wir schaffen es, Bryan!«, flüsterte sie entschlossen.
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