Am Ufer der Traeume
»Wir beide schaffen es! Uns nimmt niemand die Zukunft weg!«
Von neuem Mut beseelt, lief Molly nach Hause. Ihre Haare wehten in dem frischen Wind, der vom Meer heraufblies. Für einen Frühlingstag war es ungewöhnlich kühl, und sie war froh, vor zwei Jahren einen preiswerten Mantel erstanden zu haben, der sie einigermaßen wärmte. Sie trug keinen Hut wie die vornehmen Damen am Union Square oder noch weiter nördlich und ihre Schuhe waren nicht einmal vor fünf Jahren modern gewesen. Fast ihr ganzer Verdienst war für die Miete und den täglichen Bedarf draufgegangen, und sie konnte von Glück sagen, dass es ihr gelungen war, wenigstens ein paar Dollar auf die Seite zu legen. Zusammen mit den Ersparnissen, die Bryan ganz sicher mitbringen würde, schafften sie es bestimmt nach Westen. Und wenn nicht, würden sie unterwegs eben arbeiten und sich die Tickets für die Weiterfahrt verdienen.
Das vierstöckige Mietshaus, in dem ihr Zimmer lag, ragte auf der Nordseite einer schmalen Seitenstraße zwischen der Tenth und Eleventh Avenue empor. Auf der Treppe vor dem Eingang saß ein alter Mann, dem keiner mehr Arbeit geben wollte, und starrte mit leeren Augen in die blasse Sonne, gleich neben der Treppe spielten Kinder mit einer leeren Konservendose. Ein laut bellender Hund versuchte, ihnen die Dose wegzunehmen, und fing sich mehrere Fußtritte ein. Er rannte jaulend über die Straße. »Hallo, Mister Fleming«, begrüßte Molly den alten Mann. »Noch immer keine Arbeit?« Der Alte antwortete nicht, zuckte nicht einmal die Schultern wie noch vor einigen Tagen.
Mit gemischten Gefühlen stieg Molly die Treppe empor. Die Zimmer unter dem Dach waren am billigsten und während des anstrengenden Aufstiegs erfuhr man auch, warum das so war. Abgesehen von der knarrenden und mit Unrat beschmutzten Holztreppe, auf der man leicht ausrutschen oder stolpern konnte, nervten auch die kleinen Fenster, die kaum Tageslicht hereinließen.
Vor der Tür ihres Zimmers blieb sie stehen. Sie ahnte, wie Fanny auf die Nachricht von ihrer Kündigung reagieren würde, und wollte den Augenblick so lange wie möglich hinauszögern. Ihre Schwester war um diese Zeit meist zu Hause, ruhte sich aus, bevor sie zur Arbeit ging. Molly hatte schon mehrmals vorgehabt, sie in dem Lokal am Broadway zu besuchen, war aber nie dazu gekommen. Wenn sie von der Arbeit kam, war sie viel zu müde, um noch auszugehen. »Ist mir auch lieber«, sagte Fanny, »du würdest dich dort sowieso nicht wohlfühlen. Ist ein Saloon, eine Kneipe, so was wie ein Pub.«
Molly fürchtete sich ein wenig davor, ihrer Schwester gegenüberzutreten und ihr von der Kündigung zu erzählen. Fanny würde ihr sicher eine ordentliche Standpauke halten. »Bist du verrückt?«, hörte Molly sie bereits sagen. »Sie wollen dich zur Vorarbeiterin machen und du lehnst einfach ab? Und von welchem Geld willst du leben?«
Molly öffnete vorsichtig die Tür, um ihre Schwester nicht zu stören, falls sie noch schlief, und hörte einen leisen Schrei. »Fanny? Fanny ... bist du das?«
»Nicht reinkommen!«, erschrak Fanny. »Warte noch, Molly!«
»Alles in Ordnung?« Sie vernahm Stimmen, die ihrer Schwester und die eines Mannes, gleich darauf das Tapsen nackter Füße und einen leisen Fluch.
»Du sollst draußen bleiben, verdammt!«
Molly tat ihr den Gefallen, glaubte inzwischen zu wissen, was Fanny so erschreckt hatte, und hatte keine Lust, sie mit dem »alten Knacker« oder irgendeinem anderen Mann zu erwischen. Erst als Fanny »Jetzt kannst du reinkommen!« rief, drückte sie die Tür nach innen und betrat das kleine Zimmer.
Ein Mann mogelte sich mit gesenktem Kopf an ihr vorbei, eine Hand am Zylinder, die andere um den Knauf eines Stocks verkrampft, und verschwand im Treppenhaus. In dem düsteren Licht der Öllampe, die auf der Kommode brannte, sah Molly nur, dass er mindestens doppelt so alt wie Fanny war. Er duftete nach dem Rosenöl, das ihre Schwester benutzte.
Wie ein kleines Mädchen, das man bei einem bösen Streich erwischt hatte, saß Fanny auf dem ungemachten Bett. Sie sah zerzaust aus, hatte ihre Haare offen und nestelte an den Knöpfen ihres Kleides herum. »Es ist nicht so, wie du denkst«, begann sie, bevor Molly etwas sagen konnte. »Ich war nur ein bisschen nett zu dem Gentleman. Ich kenne ihn aus dem ... dem Lokal, weißt du? Ein netter Mann. Wir haben uns ein wenig unterhalten, weiter nichts.«
»Und deshalb sitzt du auch auf dem Bett!« Molly schloss die Tür hinter sich
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