Am Ufer der Traeume
bist verrückt.«
Wie recht ihre Schwester hatte, bekam Molly am nächsten Tag zu spüren. Nachdem sie ihren Restlohn in der Nähstube abgeholt hatte, lief sie von einer Firma zur nächsten und betrat jeden Laden, an dessen Fenster oder Tür ein Schild mit der Aufschrift »Hilfe gesucht« hing. In einem Eisenwarenladen trat ihr ein älterer Herr entgegen, anscheinend der Besitzer, und schüttelte heftig den Kopf, als er ihren Dialekt hörte. »Das stimmt schon«, antwortete er, »ich suche tatsächlich eine Hilfskraft, aber mit Ihren roten Haaren und dem irischen Akzent würden Sie hier nicht mal einen Nagel verkaufen.« Sein eigener harter Akzent wies ihn als Deutschen aus. »Verstehen Sie mich nicht falsch, junge Dame. Mir persönlich ist es egal, woher jemand kommt. Deswegen bin ich ja nach Amerika ausgewandert, damit ich mich nicht mit solchen Problemen herumschlagen muss. Aber die meisten Leute in dieser Gegend denken anders und ich könnte meinen Laden auch gleich zumachen, wenn ich Sie einstelle.«
Ähnliche Antworten bekam sie bei einem deutschen Bäcker, einem polnischen Metzger und einem russischen Schuhmacher. Ein chinesischer Wäschereibesitzer, der mit einem so starken Akzent sprach, dass sie ihn kaum verstand, fuchtelte wild mit den Armen herum, erklärte ihr, dass er nur Chinesinnen einstellen würde, weil ihm die keinen Ärger machten, und scheuchte sie aus seinem Laden. Sie stolperte auf den Gehsteig und blieb enttäuscht stehen, kämpfte tapfer gegen die Tränen an, die sich in ihren Augen sammelten. Zum ersten Mal kam ihr der Verdacht, dass es vielleicht doch besser gewesen wäre, das Angebot von Mister Silverstein anzunehmen. Einen Posten als Vorarbeiterin würde man ihr nirgendwo mehr anbieten. Alle anderen Einwanderer schienen sich gegen die Iren verschworen zu haben, nur die Neger standen noch tiefer, und an manchen Ladentüren hingen sogar Schilder mit der Aufschrift »Hilfe gesucht! Keine Iren! Keine Neger!« Sie lehnte sich mit dem Rücken gegen eine Hauswand und ließ ihren Tränen jetzt freien Lauf, konnte nicht verstehen, dass man die Iren so verabscheute. »Warum?«, rief sie so laut, dass sich die Leute nach ihr umdrehten. »Was habt ihr gegen uns?«
Sie kaufte sich eine Wurst von einem fahrenden Händler und biss wütend hinein. Vergeblich hatte sie an diesem Tag nach einem irischen Laden gesucht. Es gab keine irischen Ladenbesitzer, nur ein Pub, eigentlich mehr eine Absteige, und ein Mietstall, in dem lediglich alternde Ackergäule ihr Gnadenbrot fraßen, wurden von Iren betrieben, und beide hatten weder genug Arbeit noch das nötige Geld, um eine Angestellte zu beschäftigen.
»Warum versuchst du’s nicht am Broadway?«, schlug ihr der Lokalbesitzer vor, ein schmächtiger Mann mit sauber gescheitelten Haaren und feuchten Lippen. »An deiner Stelle wäre ich längst dort. Da kannst du doch viel mehr verdienen als hier auf der West Side. Wenn ich so aussehen würde wie du ...«
Molly wusste, was der Lokalbesitzer meinte, und verabschiedete sich mit eisiger Miene von ihm. »Ich will mein Geld auf anständige Weise verdienen.«
»Dann bleibt dir nur eine Nähfabrik. Die suchen immer Mädchen.«
»Das weiß ich, Mister. Auf Wiedersehen.«
Molly verließ den Laden und ging einige Schritte. Sie war den ganzen Tag kreuz und quer durch die Stadt gelaufen und hatte keine Ahnung, wo genau sie sich befand. Sie blieb an einer Kreuzung stehen und blickte die dunklen Häuserzeilen entlang. Im düsteren Licht der Gaslaternen, die inzwischen brannten, wirkten die mehrstöckigen Mietshäuser noch abweisender. Hinter einigen Fenstern flackerten Gaslichter, Öllampen oder Kerzen. Hinter den Giebeldächern ragte der schlanke Turm der Trinity Church empor. Die Kirche war der beste Wegweiser in dem unübersichtlichen Häusermeer und verriet ihr, dass sie nach Osten gelaufen war und besser umkehrte, wenn sie noch vor Einbruch der Nacht zu Hause sein wollte. Nachts lebte man gefährlich in New York, besonders wenn man sich in der Nähe der Five Points aufhielt, einer belebten Kreuzung mit Kneipen und zweifelhaften Spelunken, in denen sich Verbrecher, leichte Mädchen und andere zwielichtige Gestalten tummelten.
Sie wandte sich nach Westen und beeilte sich, nach Hause zu kommen. Morgen war auch noch ein Tag. Dann würde sie die Läden im Süden abklappern, es vielleicht bei den Italienern versuchen, auch wenn die ebenso schlecht auf die Iren zu sprechen waren. Aber wer war das nicht? Irgendjemand
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