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Am Ufer der Traeume

Am Ufer der Traeume

Titel: Am Ufer der Traeume Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Jeier
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würde sich ihrer schon erbarmen, und wenn es nur ein Übergangsjob war. Sie dachte sogar daran, sich eines von Fannys schönen Kleidern auszuleihen und bei einigen vornehmen Familien rund um den Union Square vorzusprechen. Die Familien gingen oft im Park spazieren. Vielleicht hatte sie Glück und wurde von einem feinen Gentleman als Hausmädchen angestellt.
    In Gedanken versunken merkte sie viel zu spät, dass sie an einer Kreuzung falsch abgebogen und in eine dunkle Sackgasse geraten war. Im unruhigen Schein einer Gaslaterne kamen ihr drei Männer entgegen, junge Burschen in langen schwarzen Mänteln, dem Markenzeichen der Black Birds, wie sich eine der gefährlichsten irischen Banden in New York nannte. Sie machten gemeinsame Sache mit den Dead Rabbits und bekämpften die Native Americans, eine Bande von »eingeborenen Amerikanern«, die ihr Land vor einer »irisch-katholischen Verschwörung« bewahren wollten und dabei vergaßen, dass sie oder ihre Vorfahren selbst einmal in Amerika eingewandert waren.
    »Hey, wen haben wir denn da?«, rief einer der Black Birds spöttisch. »So ein hübsches Vögelchen ist uns schon lange nicht mehr ins Netz gegangen!«
    »Ich bin Irin!«, erwiderte Molly schnell. »Ich bin auf eurer Seite!«
    Der junge Mann lächelte. »Ein Grund mehr, nett zu uns zu sein. Warum kommst du nicht näher? Wir beißen nicht. Lass uns ein wenig Spaß haben!«
    »Ich hab keine Zeit. Ich muss nach Hause.«
    »Dauert nicht lange. Wir sind nur zu dritt ...«
    Die jungen Männer kamen bedrohlich näher. Molly erkannte die Gier in ihren Augen und wollte weglaufen, blieb aber wie angewurzelt stehen und starrte sie entgeistert an. Als wäre sie plötzlich am Boden festgefroren. Wie ein Reh, das von einem Wolf gestellt worden war, erwartete sie ihr Schicksal.
    »Lasst sie in Ruhe!«, rief eine Stimme aus der Dunkelheit.

22
    Molly hatte die Stimme sofort erkannt und wähnte sich in einem Traum. Mit klopfendem Herzen blickte sie dem jungen Mann entgegen, der langsam in den Lichtschein der flackernden Laterne trat und sie ungläubig betrachtete.
    »Bryan!«, stieß sie flüsternd hervor.
    »Molly!« Seine Augen leuchteten selbst im trüben Laternenschein. »Du bist ja doch noch in New York! Ich hab die ganze verdammte Stadt nach dir abgesucht!« Er kam langsam näher. »Sag bloß, du hattest dich versteckt!«
    »Versteckt?« Molly spielte die Entrüstete. »Fanny und ich wohnen in einem Mietshaus in der 34th Street, das hätte dir jeder in der Gegend sagen können, Blue Eyes. Anscheinend hast du doch nicht die ganze Stadt abgesucht. Oder soll ich vielleicht mit einer Glocke um den Hals rumlaufen oder jeden Morgen über den Broadway gehen und laut deinen Namen rufen?«
    Bryan grinste frech. »Keine schlechte Idee. Ich dachte, du hättest dir längst einen reichen Gentleman geangelt und würdest am Union Square in einem dieser eleganten Paläste wohnen und den Tee mit spitzen Fingern trinken.«
    »Das fehlte noch.« Sie grinste zurück. »Und du? Hast du eine Freundin?«
    »Keine Zeit ... und keine Lust.«
    »Und warum küsst du mich dann nicht?«
    Fast hatte es den Anschein, als würde Bryan erröten. »Verschwindet!«, rief er seinen feixenden Freunden zu. Er unterstrich seine Worte mit einer heftigen Geste und war erst zufrieden, als sie nicht mehr zu sehen waren.
    »Schöne Freunde hast du da«, sagte sie.
    »Dubliners«, erwiderte er, als wäre das bloße Wort schon Entschuldigung genug. Wer aus Dublin kam, war in den Augen der irischen Landbewohner ein arroganter Schnösel. »Diese Stadtfräcke haben eben kein Benehmen.«
    Sie lächelte. »Worauf wartest du noch, Blue Eyes?«
    Sie sanken einander in die Arme und küssten sich. Es war nicht der stürmische Kuss, wie sie ihn in unzähligen Träumen erlebt hatte, nicht die leidenschaftliche Umarmung, in der man alles um sich herum vergaß und nur für den Augenblick lebte, eher eine beinahe schüchterne und zärtliche Annäherung, wie sie zwischen Liebenden geschah, die sich zum ersten Mal auf diese Weise begegneten. Vergessen waren die kecken Bemerkungen, mit denen sie sonst ihre Zuneigung zu überspielen versuchten, vorbei war alle Neckerei. Es gab nur noch ihn und sie und dieses einmalige Gefühl, von einem Menschen begehrt zu werden, nach dem man sich so lange gesehnt hatte.
    Molly lächelte zufrieden, als sie sich voneinander lösten, und blickte in seine blauen Augen, in denen sich das flackernde Licht der Laterne spiegelte und winzige Sterne tanzen

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