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Am Ufer Des Styx

Am Ufer Des Styx

Titel: Am Ufer Des Styx Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Peinkofer
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…«
    Er brach plötzlich ab, als von draußen Schreie zu hören waren, so laut und durchdringend, dass sie selbst durch den Regen und die doppelte Wandung des Dachs zu vernehmen waren. Eine sich überschlagende Stimme rief etwas in einer fremden Sprache, die Sarah nicht verstand – ein Wort jedoch war deutlich herauszuhören.
    Golem …
    »Was ist da draußen los?«, wollte sie wissen.
    »Der Golem«, erwiderte der Rabbi flüsternd. »Er wurde wieder gesichtet. Ganz in der Nähe …«
    Sarah verlor keinen weiteren Augenblick. Auf dem Absatz fuhr sie herum, wollte durch die Luke steigen, um an der Leiter hinab zuklettern. Die knochige Hand des Rabbiners hielt sie jedoch zurück.
    »Lassen Sie mich los«, verlangte sie. »Ich muss diese Kreatur finden und herausbekommen, was es mit ihr auf sich hat.«
    »Nur noch eines«, sagte Oppenheim.
    »Was?«
    »Ich bin Ihnen noch eine Antwort schuldig, Lady Kincaid. In der Weissagung heißt es, dass jene, die das Geheimnis des Golems zu ergründen sucht …«
    »Ja?«, drängte sie.
    »… dabei den Tod finden wird«, entgegnete der Rabbiner mit einem Tonfall, der zugleich unendliches Bedauern und grässliche Endgültigkeit enthielt. Sarah fühlte, wie sich eine neue, noch leise Furcht ihrer bemächtigte, die sie zuvor noch nicht empfunden hatte.
    »Wenn schon«, sagte sie dennoch. »Jeder folgt seinem eigenen Schicksal, nicht wahr?«
    Damit riss sie sich los und wandte sich um, stieg die morsche Leiter hinab durch die steile Schräge. Die Sprossen knarrten erneut unter ihren Tritten, und sie war froh, als sie ihren Fuß wieder auf den steinernen Boden der Wandelhalle setzte. Durch die von Kerzen beleuchteten Kammern kehrte sie zur Eingangshalle zurück, in der Erwartung, dort auf ihre Gefährten zu treffen – doch weder Friedrich Hingis noch Horace Cranston waren zur Stelle.
    »Friedrich?«, rief Sarah deshalb laut. »Doktor …?«
    Keine Reaktion.
    »Friedrich, wo bist du? Dr. Cranston, sind Sie da?«
    Erneut erhielt Sarah keine Antwort außer dem Prasseln des Regens, der unvermindert heftig niederging und die Gasse vor der Synagoge halb unter Wasser gesetzt hatte.
    Suchend blickte Sarah hinaus in die Dunkelheit, die inzwischen hereingebrochen war, aber im trostlosen, von glitzernden Regenfäden durchzogenen Grau waren gerade noch die Umrisse der angrenzenden Gebäude zu erkennen – von ihren Gefährten fehlte jede Spur.
    »Friedrich?«, rief sie dennoch noch einmal. »Dr. Cranston …?« – um im nächsten Augenblick scharf Luft zu holen.
    Denn nur wenige Yards von ihr entfernt, auf der anderen Seite der Gasse, gewahrte sie einen klobigen Schatten, der dort reglos kauerte und unverwandt auf sie starrte.
    Der Golem!

4.
    R EISETAGEBUCH S ARAH K INCAID
N ACHTRAG
    Ich war allein.
    Von meinen Gefährten verlassen, stand ich unter dem Torbogen der Synagoge und sah mich jenem rätselhaften, sagenumwobenen Wesen gegenüber, von dem Rabbi Oppenheim mir berichtet hatte und von dem mich in diesem Augenblick nur acht Schritte durch eine beinahe undurchsichtige Regenwand trennten. Und ohne, dass ich es verhindern konnte, krochen jene alten Ängste in mir empor, die ich längst überwunden glaubte …
    Sarah traute ihren Augen nicht.
    Zuerst glaubte sie, einer Täuschung erlegen zu sein, denn als sie erneut versuchte, den schwarzgrauen Schemen zu erfassen, schien er sich ihrem Blick zu entziehen. Plötzlich jedoch regte sich etwas im Halbdunkel der Mauernische, und jeder Zweifel war dahin.
    Blankes Grauen ergriff Besitz von Sarah, als sich die Gestalt zu ihrer vollen, hünenhaften Größe erhob. Um sich vor dem Regen zu schützen, trug sie einen weiten Umhang, der sich mit Regenwasser vollgesogen hatte und dessen Kapuze die Gesichtszüge der Kreatur verhüllte. Dennoch war Sarah überzeugt davon, es mit jenem sagenumwobenen Wesen zu tun zu haben, von dem Rabbi Oppenheim ihr berichtet hatte – auch wenn ihr Verstand sich heftig gegen diese Einsicht wehrte.
    Für einige Sekunden war Sarah unfähig, sich zu bewegen. Dann gewann sie jedoch die Fassung zurück und handelte. Mit zitternden Händen griff sie unter ihren Mantel, um den Colt Frontier zu fassen, den sie im Holster trug – schon lange nicht mehr jenes Modell, das sie einst von ihrem Vater geerbt und auf der Jagd nach dem Buch von Thot verloren hatte, sondern eine nahezu neuwertige Waffe desselben Typs, die sie bei einem Londoner Büchsenmacher erstanden hatte. Kühl und schwer fügte sich der Perlmuttgriff in ihre Rechte

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