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Am Ufer Des Styx

Am Ufer Des Styx

Titel: Am Ufer Des Styx Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Peinkofer
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und vermittelte ihr ein Gefühl von Sicherheit, das allerdings trügerisch war.
    Doch Sarah kam nicht dazu, den Revolver zu ziehen – denn in diesem Moment bewegte sich der hünenhafte Schatten. Sein Umhang flatterte, als er sich abwandte und die Gasse hinunterging, ohne Sarah auch nur eines weiteren Blickes zu würdigen. Es war, als hätte er sie taxiert und für sich beschlossen, dass weder sie noch die Waffe in ihrer Hand eine Bedrohung für ihn darstellten.
    Was für ein seltsames Wesen war das?
    Sarah musste es herausfinden. Sie konnte nicht bleiben und auf die Rückkehr ihrer Begleiter warten, sondern musste die Gelegenheit, die sich ihr bot, beim Schopfe packen. Auch wenn es bedeutete, alle Warnungen in den Wind zu schlagen, die die Gräfin Czerny ihr im Hinblick auf die Josephsstadt und die dort herrschenden Zustände mit auf den Weg gegeben hatte.
    Sarah fühlte ihr Herz bis zum Halse schlagen. Übelkeit stieg in ihr empor, aber sie zwang sich dazu, den Schutz der Eingangshalle zu verlassen, und huschte hinaus in den Regen, dem Schreckgespenst hinterher. Ein gutes Stück voraus konnte sie seine hünenhafte Silhouette erkennen. Mit ausgreifenden Schritten, dennoch aber träge und irgendwie wankend, ging der Golem in der Mitte der menschenleeren Gasse, als gäbe es keine Nacht und keinen Regen.
    Der Schein der wenigen noch funktionsfähigen Gaslaternen kämpfte vergeblich gegen die Dunkelheit und die dichten Regenschleier an; wirkungslos verpuffte er und sorgte lediglich für stumpfe, fahlgelbe Flecke im tristen Schwarzgrau, die weder Licht noch Trost spendeten. Den Kopf zwischen die Schultern gezogen, als könne sie sich so vor dem prasselnden Regen schützen, eilte Sarah durch eine Reihe von Gassen. Anfangs huschte sie noch von einem Mauervorsprung zum nächsten, um sich vor Entdeckung zu schützen. Aber die tumbe Kreatur schritt nur stumm geradeaus, ohne sich jemals umzublicken, sodass Sarah auch diese Vorsichtsmaßnahme schon bald unterließ.
    Als sie das Vordach eines Ladengeschäfts passierte, das inzwischen geschlossen hatte und dessen Tür und Fenster vergittert waren, sah sie im Halbdunkel zwei abgerissene Gestalten darunter kauern: junge Frauen in schäbigen Umhängen, die sich ängstlich aneinander schmiegten und Sarah mit panischen Blicken bedachten. Sie hastete weiter, und in verwinkelten Nischen und unter schmalen Torbogen gewahrte sie noch mehr Menschen, die ohne Obdach waren und vor dem Regen Zuflucht suchten – und auch in ihren bleichen Mienen stand ohne Ausnahme blanker Schrecken zu lesen.
    Sarah zweifelte nicht daran, dass die Begegnung mit dem Golem dies bewirkt hatte, und sie begriff, dass diese Leute in der sagenumwobenen Kreatur keineswegs einen Helfer sahen, sondern dass sie ihn wie der Rabbiner als schlechtes Omen für die Prager Gemeinde zu betrachten schienen. Anders als vor dreihundert Jahren verbreitete der Lehmmann Angst und Schrecken. Aber weshalb hatte man ihn dann ins Leben gerufen? Welche finsteren Ziele verbargen sich hinter der Rückkehr des Golems?
    Sarah hegte keinen Zweifel daran, dass es Zusammenhänge gab. Es konnte kein Zufall sein, dass das Jahr 1565 sowohl das Auftauchen des Codicubus als auch das des Golems markierte. Was fehlte, war das Bindeglied. Möglicherweise bestand es in ebenjenem »Wasser des Lebens«, von dem Oppenheim gesprochen hatte.
    Sarah war dem Rabbiner dankbar für seine Auskünfte. Noch während sie dem Golem durch die Gassen folgte, versuchte sie, all die neuen Erkenntnisse, die sie gewonnen hatte, zu ordnen und in einen Zusammenhang zu bringen, was ihr jedoch nur teilweise gelang. Noch waren zu viele Fragen offen, als dass die vielen Teile des Mosaiks ein sinnvolles Ganzes ergeben hätten, aber Sarah war wild entschlossen, das Rätsel zu lösen, mit derselben Akribie und Beharrlichkeit, mit der ein Archäologe die Scherben einer antiken Vase zusammenzusetzen pflegte …
    Ein gutes Stück vor ihr schickte die riesige Gestalt sich an, in eine Nebengasse einzubiegen – und in diesem Moment wandte sie sich zum ersten Mal um.
    Sarah war nicht mehr darauf gefasst gewesen, dennoch reagierte sie blitzschnell. Geistesgegenwärtig suchte sie hinter einer Reihe alter, mit Regenwasser gefüllter Holzfässer Zuflucht, die irgendwann abgestellt und dann ihrem Schicksal überlassen worden waren. Der prüfende Blick, der aus dem Dunkel der Kapuze die Gasse taxierte, verfehlte sie. Sarah atmete auf. Als sie ihr Versteck jedoch wieder verlassen wollte, schoss

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