Am Ufer (German Edition)
erfahren: Der Himmel hier ist das, was du dir kaufst, die Gesichtscremes, der Kühlschrank und was im Kühlschrank drinliegt, das Auto, um zur Arbeit zu kommen oder am Sonntagnachmittag mit den Kindern an den Strand von Misent zu fahren, damit sie im Sand spielen und im Wasser planschen können, aber dazu kommen sie nur selten, denn wenn ich Wilson darum bitte, sagt er, das Wochenende ist dazu da, sich auszuruhen, auf dem Sofa zu fläzen und sich zu langweilen, das bedeutet nämlich, sich auszuruhen, oder Fußball zusehen, und nicht den Chauffeur zu spielen und auf dem Weg zum Strand im Stau zu stecken. Statt Erholung Nervosität, Anspannung, noch größere Erschöpfung. Kommt nicht in Frage, sagt er. Da ist kein anderer Himmel als der, Sachen anzuhäufen, ein Himmel, der Geld kostet, Geld ist der Schlüssel zum Himmel, und daraus folgt viel Hoffnungslosigkeit, wenn du keine Euros hast. Das macht einen fertig, so viele Berechnungen im Monat anzustellen, ohne dass etwas herauskommt, außer dass ich bei Ihnen um Hilfe bitten muss. Bei uns beten die Armen zu einer kleinen Statue der Jungfrau, die ein Kind in Armen hält und auf dem Mond steht, unsere liebe Frau von Chiquinquirá, oder sie beten zu einem Kind, das in einen roten Umhang gekleidet ist, eine Krone auf dem Kopf trägt und einen Erdball in der Hand hält, oder zu diesem anderen Gotteskind, so hübsch in seinem rosa Gewand mit dem grünen Gürtelchen, es hebt die Ärmchen hoch, bittet seinen Vater, ihn in die Arme zu nehmen, aber in Olba gilt das alles nichts, die Heiligen sind Puppen, an die niemand glaubt, ich weiß ja, dass die Heiligen dir nichts geben können, aber sie begleiten dich und machen dir Hoffnung, dass etwas Außerordentliches oder Unerwartetes dir widerfahren kann, ein Wunder, etwas, das kommt, und dies alles hier, was so schmerzhaft ist, über den Haufen wirft, diese große Lieblosigkeit, die alles besetzt, schon mit den Kindern fängt es an, sie gehen morgens in die Schule, ins Institut, und kommen davon nach Haus und mögen nicht dich, nicht das, was du ihnen geben kannst, sondern Sachen, die du dir nicht leisten kannst, oder für die du Opfer bringen musst, sie fordern die einfach und werden sauer, weil du sie ihnen nicht kaufst, die Sportschuhe von Nike, den Overall von Adidas, die Playstation – ihr Stückchen Himmel kostet Geld, und du kannst es ihnen nicht schenken, und wenn du es dir genau überlegst, haben sie ja recht, wie sollen sie dich mögen, wenn du ihnen den Himmel vorenthältst? So einfach ist das nicht, Liliana. Es gibt schließlich andere Dinge. Dann sagen Sie mir, welche. Ich weiß nicht, vielleicht das, was uns verbindet, was wir miteinander besprechen. Warum machstdu uns nicht einen Tintico – so heißt er doch bei euch? – und wir trinken ihn zusammen. Heute bitte kein Sacharin für mich, nimm Zucker, damit wir ganz genau den gleichen Kaffee trinken. Vereint im Bitteren und im Süßen. Komm schon, ich will dir was zeigen, schau, hier, diese Schachtel, die ist doch wunderhübsch, nicht wahr? Fass sie nur an, ganz glatt. Riech dran. Sie ist aus einem Holz gemacht, das Palisander heißt. Aber mach schon auf, genier dich nicht, ich möchte, dass du siehst, was darin ist, na, was meinst du? Gefällt es dir? Es ist der Schmuck meiner Mutter, sie hat ihn von ihrer Mutter geerbt, einer Großmutter, die ich nicht gekannt habe. Meine Mutter mochte mich lieber als die anderen Geschwister, ich liebte sie auf meine Weise, es störte mich, dass sie ständig weinte, aber auch ich habe ihr was vorgejammert, sie ist, glaube ich, die einzige Frau, vor der ich geweint habe, ach nein, das stimmt nicht, da gab es noch eine andere, ich habe nicht vor ihr geweint, aber sie hat mich zum Weinen gebracht. Nun, wir sprechen ja von meiner Mutter. Ich glaube, sie hätte gern Heiligenbildchen und Marienfigürchen gehabt, ihre Familie frömmelte sehr, aber mein Vater ertrug diese Seite von ihr nicht, und sie hat sich gerächt, indem sie den Kindern die Seele aussaugte, die Glucke, die unter ihren Flügeln die Küken schützt, manchmal glaubte ich, ich sei nur ihr Kind und nicht auch das meines Vaters, sie gab einem alles und tat so, als sei es ein Opfer, in Wirklichkeit war es Egoismus, sie stahl meinem Vater den Teil von uns, der ihm gehörte. Gefällt dir der Anhänger? Gefallen dir die Ohrringe? Der einzige Schmuck des Hauses, er ist über hundert Jahre alt, die Eltern meiner Mutter hatten eine gehobene gesellschaftliche Stellung, sie haben ihr
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