Am Ufer (German Edition)
kastanienbraun, bläulichgrün und kindlich graubraun schimmert, das auf einer gelblichen Hornhaut schwimmt und halb vergraben zwischenFettwülsten ist, das Auge aller Augen. Den Pfahl hineinrammen, die Bestie blenden und aus der Falle fliehen. Denn das ist es, was ich plötzlich sehe, die Bestie, das ursprüngliche Raubtier, den Aasfresser. Ich entdecke den dunklen Grund des Menschen: den Groll von unten. Sie sind auf der Jagd, und ihr Kalkül ist rein auf Effizienz gerichtet, mehr zu bekommen bei weniger Anstrengung: das ist die Ebene des Bedarfs (Bedürfnis, Not, Notwendigkeit), bar jeder moralischen Werte: Wie sticht man dem Schwein das Messer in die Gurgel, damit es beim Sterben am wenigsten Ärger macht, wie rupft man ein Huhn am schnellsten; ich hingegen – wie in seiner reiferen Zeit der Jäger-Vater von Francisco, geläutert von den Spinnereien seiner Jugend – plansche in der Pfütze der Moral, das gehobene Stadium des guten Benehmens. Ich rede in aller Freundlichkeit, argumentiere. Entdecke dabei das Fortbestehen dessen, was Francisco und ich in früheren Zeiten Klassenkampf nannten. Aber das kann doch nicht sein, der Klassenkampf hat sich überlebt, aufgelöst, die Demokratie hat sich als gesellschaftliches Lösungsmittel erwiesen: alle Welt lebt, kauft, geht zum Supermarkt und an den Bartresen und auf die Plaza zu den Konzerten, die der Stadtrat bezahlt, und alle reden zur gleichen Zeit, ein Stimmengewirr wie bei den turbulenten Versammlungen im Tivoli-Kino, an die sich mein Vater erinnert, da ist kein Oben und kein Unten wahrzunehmen, alles ist verworren, konfus, und dennoch regiert eine geheimnisvolle Ordnung, das ist die Demokratie. Doch plötzlich, seit ein paar Jahren, ist die Wiederherstellung einer klareren, weniger hinterhältigen Ordnung spürbar. Die neue Ordnung ist gut sichtbar, Oben und Unten klar unterschieden: Die einen tragen stolz ihre prallen Einkaufstüten, lachen, grüßen und bleiben stehen, um mit der Nachbarin am Eingang zum Einkaufszentrum ein wenig zu schwatzen, die anderen wühlen in den Müllcontainern, in welche die Angestellten des Supermarkts die abgelaufenen Fleischpackungen, das angefaulte Obst und Gemüse, die alten Industrie-Backwaren kippen. Sie streiten sich darum. Und wer bin ich, wo stehe ich, mir istnicht ganz klar, ob ich zum Schwätzchen stehen bleibe oder in den Containern wühle, denn wenn einer in dieser Scheißwerkstatt ausgebeutet worden ist, dann bin ich es. Und meine Schwäche? Kümmert sich keiner um meine Schwäche? Ich müsste ihnen beweisen, dass die Trennlinie nicht zwischen uns verläuft. Aber das kann ich nicht, denn sie verläuft zwischen uns. Und zwar am Tischrand. Ich sitze auf der anderen Seite und rede darüber, was in Rechnung gestellt wird und was nicht, über die Abfindungen, die ihnen zustehen, ich mische in meinen Händen ihre Zukunft, wie ich in der Bar die Karten mische, ich sage, wie viel und in welchen Raten
ich
zahle und
sie
ihr Geld bekommen können (ich lüge, ich lüge sie an, in der Kasse ist kein Euro, wer soll ihnen diese letzten drei Monate, die sie umsonst gearbeitet haben, zahlen?). Aber warum denke ich jetzt beim Gehen an das, was schon Vergangenheit ist: Die Firma gibt es nicht mehr. Es gibt kein Oben oder Unten, das noch etwas gälte, zumindest nicht für mich. Die Pfändung, sie hat uns wie eine Maurerkelle wieder gleich gemacht, glatt gestrichen, alle auf dem gleichen Niveau: Zu Boden!, wie der Putschist Tejero den Parlamentariern zurief, wir liegen platt am Boden, was uns hochhelfen könnte, ist längst Vergangenheit und wird bald nichts mehr sein. Ich stehe im Sumpf, laufe durch den Marjal, suche nach dem Szenario, dem Ort, an dem mein Vater verschwinden wollte. Es ist nicht der Zeitpunkt für Triviales, es gilt nur das Transzendente. Aber was sage ich da, der Klassenkampf trivial? War er nicht das einzig Bestimmende, das alles prägte und durchdrang? Der große Motor der Weltgeschichte? War es nicht das, was mein Vater und seine Freunde geglaubt haben, was Francisco in seiner Jugend geglaubt hat und was ich weder geglaubt noch zu glauben aufgehört habe, aber als gegeben ansah? Die Märtyrer, die Gefallenen, die Kämpfer, die Gefolterten, Opfer unserer Geheimpolizei, der portugiesischen PIDE, der CIA, der Okhranka. Sie waren die Energiequelle, die meines Vaters Hoffnungen speiste, die des jungen Francisco in seinem heimlichen Kampf gegen den eigenen Vater (auf das Bild des Falange-Mannesspucken und die Spuckespuren
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