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Am Ufer (German Edition)

Am Ufer (German Edition)

Titel: Am Ufer (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rafael Chirbes
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wegwischen). Deswegen habe ich meinen Vater verachtet, seitdem ich meinen Verstand einsetzen konnte. Weil er das zum Mittelpunkt seines Lebens gemacht hatte. Das ewige Lamentieren, die Verwünschungen, sie nervten mich. Alles sollte immer nur Oben und Unten sein, sie und wir. Deins und unseres. Dass immer alles darauf hinauslaufen musste. Obwohl, an jenem Nachmittag, dem Polyphem mit den fünf Augenpaaren gegenüber, die ein einziges Auge sind, war die Sprache plötzlich wieder da, die ich mir bis zum Erbrechen anhören musste. Was soll’s:
sie
, das bin jetzt ich, und sie sind
wir
. Basta. Was steht an? Den Augenblick ernst nehmen. Was ist ernst im Leben? Ist Sterben etwas Ernstes? Das können ja schon die Neugeborenen. Selbst die dümmsten Tiere sterben. Hab keine Angst, Papa, dem Tod geht der Ernst ab, nicht der Rede wert, doch der Sumpf hat einen weichen Schoß, und der Schlick ist eine milde Wiege, die dich aufnimmt, wenn es Nacht wird, eine Matratze aus schaumiger Schokolade, auf der du ruhst, auf der wir ruhen. Hast du nicht diese Grabsteine von mittelalterlichen Rittern gesehen, wo, ihnen zu Füßen, in denselben Marmor geschlagen, der treue Hund kauert? Nun, genau dasselbe, du und dein Straßenköter.
    »Dass man sich deiner erinnert, weil du das Geld rausschmeißt – das strebt doch keiner an«, wiederholt Justino Lécter, und saugt an dem Plastikmundstück, an der falschen Mentholzigarette, die, seitdem das Rauchen in der Bar verboten ist, die Zigarre ersetzt, die er während der Partie rauchte. Ein Argument, das, wie ich zu erinnern glaube, schon jemand früher gebracht hat. Als wäre es nicht gerade er, der mir gegenüber damit prahlt, wie er das Geld hinausschmeißt: Kaviar, Champagner, Mösen, Ehen, komplementäre Genüsse in derselben Tonskala oder solche, die erst durch den Kontrast zur Wirkung kommen. Wie er dieses Geld verdient, von dem er versichert, dass er es bestimmt nicht hinausschmeißt, darüber sagt er wenig: schäbige Unterkünfte, Boote, auf denen sich Schwarze in buntenGewändern drängen, unrasierte oder bärtige Marokkaner, aber auch Bürger aus dem Osten, so blond, die Haut so hell und so sauber, selbst wenn sie sich nicht waschen. Allerdings, jede Spezies in ihrer Zelle, in ihrem Kabuff: Russen mit Russen, Sahauris mit Sahauris, Maghrebiner mit Maghrebinern, ein perfekt geordneter Zoo, da werden nicht Schafe und Ziegen, Gazellen und Tiger vermischt, obwohl, Gazellen gibt es in diesen Baracken kaum: Hyänen und Wölfe, davon so viele du willst, besonders Hyänen, die ziehen durch das Land von Müllkippe zu Müllkippe, scharren im Aas, sammeln auf, häufen an. Die Konstante, das, was dieses Durcheinander von Sprachen, Farben und Rassen eint, was alle Tiere in Justinos Zoo gemeinsam haben, das sind die Kleinlaster, die nicht durch den TÜV gekommen sind, beladen mit Menschenfleisch oder gestohlenem Obst oder beidem, sie fahren nachts mit ausgeschalteten Scheinwerfern durch die verworrenen Wege des Anbaugebiets; es sind die elenden Arbeiten, die verlassenen Fabrikhallen als kollektiver Wohnraum, das Mobiliar stammt von wiederholten Fischzügen auf den Müllkippen, Gasöfchen, die, stets kurz vor der Explosion, aus schadhaften Gummischläuchen gespeist werden, Waschschüsseln mit Seifenwasser, Schnüre, an denen feuchte Lumpen hängen.
    Carlos, der Filialleiter der maroden Sparkasse, ist vor einer Weile gekommen und schaut – im Hintergrund sitzend – der Partie zu. Er lächelt ohne Unterlass, als amüsiere er sich über jeden Satz, den wir von uns geben. Wäre das Stück, das wir allabendlich aufführen, ein Fronleichnamspiel, wäre er der Repräsentant der Wohlanständigkeit, der Mäßigung: der rechtschaffene Leiter einer Sparkasse. Beharrlichkeit, Klarheit, Dienst am Kunden. Ein Diener der am wenigsten begünstigten Staatsbürger. War das nicht der Ursprung der Sparkassen? Den Nöten jener Schichten abzuhelfen, die man als die unteren versteht? Er tut so, als wisse er nicht, dass, wo Licht ist, auch Schatten ist, dass jeder Tag seine Nacht hat, und dass die Nacht die Brutstätte des Bösen ist, in der die Nöte der Unglückseligen die Launen der Mächtigen bezahlen. Als hätte er noch nicht begriffen, dassman mit der Rhetorik vom Allgemeinwohl keinen mehr hinterm Ofen vorlockt. Daran glaubt keiner mehr. Er selbst ist ein heimlicher Pfuhl der Schatten, wenn er die Papiere unterschreibt, mit denen die Zwangsräumung wegen Nichtbezahlung angeordnet wird, meine inbegriffen. Jeder

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