Am Ufer (German Edition)
gesprochen. Mütter, die ihre Kinder ersticken, Söhne, die ihre Väter mit einem Krummsäbel enthaupten, oder ihre Schwestern, dazu die Personen, die für oder gegen sieaussagen, sie nehmen die Täter als Vorwand, um ein paar Tage lang im Fernsehen zu erscheinen und dort über die Unsicherheit auf den Straßen zu klagen oder die Todesstrafe für alle zu fordern, Schwiegermutter und Schwägerin des Verdächtigen eingeschlossen, der meistens ein Mensch ohne Papiere ist, der zufällig dort vorbeikam.«
Francisco:
»Mütter, Schwiegermütter, Schwiegertöchter, Schwägerinnen. Ein anderes Thema. Die anhaltende Bedeutung der Familie in den Ländern des Mittelmeerraums. Die Wirtschaftsanalysten haben es jetzt bestätigt: Dank der Familie merkt man kaum etwas von den über fünf Millionen Arbeitslosen. Spanien widersteht der Krise dank des familiären Beistands, dank der Solidarität innerhalb des Clans, der Hilfsleistungen von Eltern, Großeltern, Geschwistern, Vettern, Onkeln, Tanten, Schwägern und Schwägerinnen. Wäre da nicht die Schüssel Makkaroni, die Mama Tag für Tag für die Welpen des arbeitslosen Sohnes auf den Tisch stellt, hätte sich längst die Gewalt auf den Straßen ausgebreitet. Das ganze Land wäre eine brennende Strohpuppe, was gar nicht so schlecht wäre. Ein neuer Anfang. Aus der Asche wird das Licht neu geboren, so etwas steht im Neuen Testament, oder bei Paulus, fällt mir gerade nicht ein. Es ist so lange her, dass ich das gelesen habe. Ich kehre zum alten System zurück, die Felder durch Verbrennen der Stoppeln zu düngen.«
Ich:
»Was haben unsere Mütter doch gekämpft, um ein Elend zu verbergen, das nicht zu verbergen war und im Übrigen allseits bekannt war (was ich hier sage, klingt fast wie eine Beleidigung, haben die Mütter von Francisco, von Bernal etwa gekämpft? Zweifellos haben sie in einem Krieg gekämpft, aber das war ein anderer Krieg, beziehungsweise die andere Seite, und auch die Ziele waren andere). Und jetzt ist es umgekehrt, wenn du nicht in fürchterlichem Elend steckst, bist du nichts; wenn sich da keine Tragödie bei dir zu Hause abspielt, ein Mann, der dich schlägt, ein Kind mit einer seltsamen Krankheit, eine Zwangsräumung (ich bemühe mich, den von derSparkasse nicht anzusehen), bist du nichts. Es ist die einzige Chance, dass jemand dich wahrnimmt. Wer ist heutzutage nicht vom Vater oder Großvater missbraucht worden? Selbst großspurige Schriftsteller erzählen in ihren Büchern davon. Mein Opa hat ihn mir bis zum Anschlag reingesteckt. Früher gab es so etwas nicht, ich kenne keinen aus meiner Generation, der von seinem Großvater gebügelt worden wäre. Anders bei den Priestern, die vergriffen sich manchmal an den Schülern, betatschten die Messdiener, besonders in den Internaten. Du bist auf einem gewesen, Francisco, du hast doch auch davon erzählt, aber das mit den Priestern war für uns eher ein Scherz als ein Trauma: Hat Don Domingo dir tatsächlich an den Pimmel gefasst? Und du hast es zugelassen? Schau an, du warmes Brüderlein!«
Justino:
»Als könne es unter den Armen ein historisches Gedächtnis geben, ohne dass ihnen die Scham ins Gesicht stiege« – kein Zweifel, er weiß, wovon er spricht, er kommt von unten, was er sagt, könnte auch ich sagen. Ein Sammelsurium von Ungeheuerlichkeiten, zum Essen gab’s Katze, Hund, Ratte, Kartoffelschalen, faulige Melonen und verwurmtes Fleisch. Das haben unsere Eltern gehabt, und, schlimmer noch, Hunger. In diesen Museen der Erinnerung wird nie eine CD aufgelegt mit dem Krr-krrr der ausgehungerten Eingeweide oder dem Maunzen, das aus der Tiefe eines schrumpeligen Magens aufsteigt. Hat man überhaupt jemandem beigebracht, eine solche Musik zu erkennen? Aber nein, der musikalische Hintergrund dieser Reportagen ist Vivaldi, Mozart, Bach, höchstens mal eine aus dem Kontext gerissene Volksliedstrophe,
Die Vier Maultiertreiber
von García Lorca oder die Hymne der zweiten Republik. Aber das Maunzen ist nicht zu hören.
Carlos:
»Verzeiht, aber ich muss euch eine Neuigkeit mitteilen: Laura« – das ist seine Frau, klar – »ist schwanger. Es wird ein Junge, und wir erwarten ihn im April. Ich werde Vater – Lächeln, hoch die Tassen,anstoßen. Du, Esteban, bist der Einzige, der sich nicht getraut hat. Noch hast du Zeit. Andrés Segovia hat mit über achtzig ein Kind bekommen. Und der Vater von Julio Iglesias hat sich ebenfalls bis ins hohe Alter fortgepflanzt.«
»Gut so. Der junge Carlos ist in dem Buch
Die
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