Am Ufer (German Edition)
wir können nicht das haben, was nicht existiert, es gibt, was es gibt, und es dauert, solange es dauert. Danach ist es vorbei. Was soll das dann, dieses Blumen-zum-Grab-Bringen, weshalb steht er mit ernster Haltung und feuchtem Blick davor? Was machst du da vor dem, das nichts ist und nichts bewahrt? Oder weinst du um dich selbst, du Narr?
Die Stiefel versinken im Matsch, der eine gummiartige Struktur hat, der Weg ist voller Pfützen, ich komme kaum mehr voran, ich weiß nicht, wie ich morgen meinen Vater dazu bringen soll, hier ein paar Schritte zu gehen, auch wenn es nur wenige Meter sind, der Rollstuhl hilft da nicht weiter. In dem klebrigen Lehm sind die Räder eher ein Bremsklotz denn eine Hilfe; für Radfahrer ist das Sumpfgelände eine Falle, es gibt Pfade, die sind das ganze Jahr über matschig, es handelt sich um zähen Matsch, ein Feind der Reifen, sie bleiben darin gefangen wie in der Form eines Bildhauers; andere Pfade, die meisten, werden schlammig, sobald ein paar Tropfen fallen, und sind streckenweise von dem vielen Unkraut überwuchert, sodass man als Fußgänger nur einzeln durchkommt. Ich muss ihn tragen oder ihn ganz langsam bis an den Rand des Wassers lotsen, das sind allenfalls zehn Meter. Das ist der Pakt, den ich stillschweigend mit ihm geschlossen habe: Ich bringe ihn an den Ort zurück, von dem wir ihn weggezwungen haben. Niemand geht in diesemverlassenen, verschilften Gebiet spazieren, wo man, passt man nicht gut auf, in Treibsand gerät, aus dem man nur schwer wieder rauskommt, mit jeder Bewegung gar ein wenig mehr versinkt. Kein erfreulicher Ort für Spaziergänge, es sei denn, du kennst dich sehr gut aus und fühlst dich gerade von diesen Erschwernissen angezogen, willst dich auf ungewisse Wege, gesäumt von Röhricht und Binsen und von Schilf verschattet, einlassen. Das Getümmel ein paar Schritt entfernt, aber doch außen vor. Ein züchtiges Rückzugsgebiet von der Welt. Wir beide treten diesen Rückzug an. Der Hund ist stehen geblieben und wendet den Kopf, er sieht mich mit seinen Honigaugen an, fällt in einen leichten Trott und sucht den Kontakt mit meinem Bein. Er hechelt, schaut mich unentwegt an. Ich streichle seinen Rücken, hocke mich hin und drücke ihn an meine Brust, und ich bin wieder gerührt, würde am liebsten weinen. Ich werde den Wagen erst bis hierher fahren, und bevor ich die Sache zu Ende bringe, werde ich ihn einige Meter weiter weg abstellen, am Dünenhang, damit das Feuer nicht auf das Röhricht übergreift. Ich klopfe ein paar Mal mit der flachen Hand auf die Karosserie. Und der Hund? Ich wende den Blick ab, ich will ihn nicht sehen, aber der Hund ist Teil der Familie. Ich würde ihn nie allein zurücklassen. Fast könnte man sagen, dass selbst die Autos zum Familienleben gehören und es grausam ist, sie zurückzulassen. Man kann sie nicht von denen trennen, die sie benutzt haben, sie bewahren deren Erinnerungen, deren DNA, den Polizisten zur Verfügung, die sich dafür interessieren könnten. Es ist unanständig, so einen Wagen in die schmutzigen Hände eines Auktionators fallen zu lassen.
Die Vergangenheit, sie verwandelt sich in einen Alien, er bläht sich auf, eine Agglomeration von Gesichtern und Stimmen, die mich immer mehr ausfüllt, ein innerer Druck, der unerträglich wird. Ich werde an diesem Druck platzen, während draußen alles tonlos, farblos wird, abnimmt, verschwimmt, sich verwischt, verschwindet: die Gesichter, die mich ansehen, und die Stimmen, die mir meine jahrzehntelangeAbschottung an diesem Ort vorwerfen, sobald ich nach Entfernung der Plombe der Stadtverwaltung allein in die Werkstatt hinuntersteige (was will mir ein Richter jetzt noch aufbrummen) oder mich vor den Fernseher setze oder meinen Vater wasche. Die Einsamkeit der Nacht im Schlafzimmer. Besser nicht an die Nacht denken. Die Nacht gehört ihnen, es ist ihre Zeit, sie haben das Sagen. Sie besetzen das ganze Zimmer, verdrängen mit ihren Körpern die Luft, und ich muss das Licht anschalten und mich aufsetzen, um der Atemnot Herr zu werden, auch damit sie alle wieder in den Wänden verschwinden, aus denen sie gekommen sind. Ich sitze stoßartig schnaufend im Bett, ich höre sie, sie bewegen sich in der Dunkelheit, streifen mich mit den Fetzen ihrer Kleider, mit ihren Fingern. Die Luft, die sie verdrängen, spüre ich an meinen Wangen, und wenn sie endlich weg sind, bleibt eine kalte Luftschicht zurück, als hätte jemand die Tür zu einem Kühlraum leicht geöffnet. Der
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