Am Ufer (German Edition)
Auflösung der Handlung verändert hat und zum Herrn der Ab läufe geworden ist, damit sogar über meinem Vater steht. Ob du willst oder nicht, die Agenda meines Vaters hat den harmlosen Charakter des Privaten, während die von Pedrós die Schwere des Öffentlichen hat: Landvermesser, Schätzer, Notare, Rechtsanwälte, Richter, Amtsdiener, Gefängniswärter. Pedrós setzt die Ellbogen ein und stößt den alten Chef beiseite, verändert die Handlung des Stücks, verändert den Dialog der letzten Szenen, und, dies vor allem, er konditioniert und forciert den Ausgang. Vorhang. Vorne auf der Bühne das gesamte Ensemble. Die zentralen Figuren neben denen, die gerade mal in ein paar Szenen gespielt haben, und den Komparsen, alle vereint, jene, die schon nicht mehr da sind, mit denen, die überleben, die, mit denen ich heute oder zumindest noch vor einer Woche umgegangen bin, und jene, die mir vor fünfzig Jahren auf diesen Reisen im
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meiner Jugend begegnet sind und von denen ich nicht mehr weiß, wo sie sind. Diejenigen, die Trainingsanzüge tragen, Röcke, Hängetaschen,Windjacken, modische Sneaker, Marken- oder Billigware, hier fabriziert oder importiert aus Frankreich, Italien, USA, China, Indien, sind vereint mit jenen, denen nur noch dunkle Stofffetzen am verdorrten Fleisch, an den Knochen kleben. Was einmal weiße Hemden mit gestärktem Kragen, Hemdbrust und Manschetten waren, sind jetzt, so geht das, nur noch Lumpen an ledriger Haut, am schadhaften Knochen gerüst. Es gibt noch so viele andere Figuren. Sie eilen vorbei, ein gedrängtes Durcheinander. Ich möchte sie erwähnen, aber es bleibt keine Zeit, so schnell ziehen sie vorbei, ich erinnere mich nicht einmal an ihre Namen, so fragil ist ihre Präsenz; und dieses, sie nicht benennen zu können, sosehr ich auch suche, ihre Namen in meinem Kopf nicht finden zu können, erfüllt mich mit Unruhe. Ich wühle vergeblich in dem, was ein Speicher sein sollte, aber zur Müllhalde geworden ist: verlorenes oder vergeudetes Gut. Das Leben als Verschwendung, nicht wahr, Vater? Ist das nicht eine deiner zentralen Überzeugungen? Vielleicht haben auch sie in einer schlaflosen Nacht vergeblich meinen Namen gesucht. Sie wollten sich Szenen vergegenwärtigen, an denen ich teilgenommen hatte. Doch die Schotten sind geöffnet. Wir leeren uns. Ich bemerke, dass ich Liliana zu den Mitwirkenden zähle, dabei ist sie doch gescheiterte Gegenwart, zeitgenössisches Theater, eine Figur, die, wie Pedrós, auf unerwünschte Weise in die Auflösung verstrickt ist, Darstellerin in ihrer eigenen Aufführung, die voraussichtlich erst in mehreren Jahren die Klimax erreicht, und so liegt ihr persönliches Schlussbild außerhalb meiner Reichweite. Ich denke, ich werde sie nicht sehen als Frau von fünfzig Jahren: der Körper wird sich verändern, die Stimme ihre Seide verlieren, oder die Seide wird welk – eine Probe dieser Verwandlung hast du mir geboten, Liliana –, das Lächeln wird sich verwischen – es hatte sich verwischt –, die Tränen werden trocknen. Ich werde dich nicht sehen, und das wird nicht eine Frage meiner Entscheidung oder meiner Laune sein. Neulich habe ich, um dir nicht zu begegnen, die Richtung gewechselt, als ich merkte, dass sich nah bei der Plaza unsere Wege kreuzen würden.Du warst allein. Diesmal hatte dich nicht dein Mann im Arm. Ja, das habe ich getan (es ist fast unvermeidlich, sich zu begegnen, Olba ist so klein, ich musste an der nächsten Ecke abbiegen), ich ertrug es nicht, dich zu sehen; ich wusste nicht einmal, ob ich, wenn wir aufeinanderstießen, dich ansprechen oder den Blick abwenden sollte. Doch dann, wenn diese Zeit kommt, von der ich spreche, werde ich dich, selbst wenn ich wollte, nicht sehen können; oder besser, ich werde dich nicht einmal sehen wollen können; deine Stimme werde ich nicht hören, keine Erinnerung wird in mir wohnen: Ich hole die Kleine aus der Kinderkrippe; den Jüngeren hol ich von der Schule ab, ich mache mir Sorgen, wenn er allein nach Hause geht, letztens sind zu viele Sachen mit Kindern passiert, danach gehe ich einkaufen im Supermarkt, schaue bei dem kolumbianischen Internetladen vorbei und kaufe dort die Produkte, von denen ich zwar nicht genau weiß, ob sie wirklich von drüben kommen, aber zumindest sind es jene, die wir dort haben: Kochbananen, Guaven, Yucca, Passionsfrucht, Bataten, in dem Internetladen bekommt man solche Dinge. Wenn mein Mann heimkommt, habe ich das Abendessen für ihn bereit, die Kinder
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