Am Ufer (German Edition)
nicht verpflichtet war, mir den zerknitterten kleinen Schein zu geben, den er mir gegeben hat. Du Sack, wiederhole ich leise, und ich sage es, weil er lebendig ist, weil er mir einen Schein geben kann, den er übrighat, weil er sicherlich noch weitere – viele oder wenige – in der Geldbörse hat, die er hastig in der Tasche versenkte (er hatte mit gekrümmter Hand die Öffnung abgedeckt, damit ich nicht sehen konnte, was drinsteckte), ohne das zu zählen, was er noch zu Hause hat und das, was vermutlich auf der Bank liegt. Ver-fluch-ter-al-ter-Sack, denk ich für mich. Aber, Julio, wo ist denn dieses Gefühl, das dir die Priester, die Lehrer und die guten Eltern in der Kindheit beigebracht haben und das sie Dankbarkeit nannten? Nein, ganz ehrlich, Dankbarkeit fühle ich nicht. Ich spüre sie nicht in mir und glaube auch nicht, dass sie in der Welt vorhanden ist. Ich habe nie gedacht, dass ich so etwas erleben würde, niemand hat uns an so etwas herangeführt, niemand uns darauf vorbereitet. Jetzt vermisse ich, was ich damals vielleicht nicht ausreichend geschätzt habe: kalte Morgen, an denen der Nebel sich nach und nach vom Boden löste, wie ein Tuchin den Bäumen schweben blieb, in den Talsohlen über dem Fluss der haftende Geruch der Zistrose, der Nachgeschmack von Anis auf der Zunge, während man zwischen dem Gesträuch voranschreitet, diese trockene Kälte, die einem den Mund reinigt, die Lungen, die Nase. Ich habe an Recycling-Kursen für Langzeitarbeitslose oder für Menschen, die bereits die Familienstütze ausgeschöpft haben, teilgenommen, Kurse, die, statt dich in irgendeinem Fach auszubilden, vorgeben, einen Anreiz zu bieten, eine Ablenkung auf dieser Strecke der Reise, die dich in den schwarzen Raum der Nicht-Zukunft hineinführt, Ausdruck eines grausigen Pessimismus: Sie lehren dich, wie du einen Lebenslauf aufsetzen und dich darin selbst präsentieren sollst, um die Aufmerksamkeit jener zu wecken, die Personal aussuchen; oder wie du den Gebrauch des Handys in Hinblick auf die Arbeitssuche optimieren kannst (ja, sie sagen, optimieren); wie du an Fahrkosten sparen kannst, wenn es darum geht, die Bewerbungen bei den Firmen einzureichen, und wie man die für die Einreichungen benötigte Zeit verkürzen kann, indem man sich zuvor nach Plan eine Route austüftelt, und dann, schon auf dem Gipfel der Mutlosigkeit angelangt, erklären sie dir, wie du eine ausgewogene Diät mit den Lebensmitteln hinbekommst, die du von der Caritas kriegst, das Päckchen Makkaroni, das Päckchen Reis, die Kichererbsen, die Tomatendose, der Zucker, wie man mit etwas Fantasie auch aus diesen wenigen Zutaten einen abwechslungsreichen Speiseplan entwickeln kann. Eine gesunde mediterrane Ernährung. Ich habe in den Werkstätten des Bezirks nach Arbeit gesucht und gesagt, dass ich in einer Schreinerei gearbeitet hätte. Aber du, bist du Schreiner?, fragen sie dann, worauf ich erkläre, dass ich in den letzten Monaten für Esteban gearbeitet habe, allerdings schwarz, und dass ich keine Arbeitslosenunterstützung mehr bekomme, das ist vorbei, jetzt beziehe ich Arbeitslosenhilfe, aber mit vierhundertfünfundzwanzig Euros kommt man nicht weit. Du hast also Esteban geholfen, bei was denn? Als was hast du gearbeitet? Hast du vermessen? Holz geschnitten? Warst du an den Sägen beschäftigt? An den Hobelmaschinen? Der Drehbank? An der Fräsmaschine? Der Bohrmaschine? Oder an der Schleifmaschine?Kannst du Holz zusammenfugen, verzapfen, verkehlen, mit Kranzleisten versehen? Kannst du eine Blockverfugung machen? Ließ Esteban dich das Werkzeug benutzen? Die Maschinen anwerfen? Nein, stimmt’s? Du machtest für ihn den Fahrer, hast dem Marokkaner beim Ein- und Ausladen geholfen, hast die Werkzeuge herangetragen, die Este ban forderte, und manchmal wusstest du nicht einmal, wie die hießen, und brachtest sie durcheinander, und er schrie dich an, nannte dich Trottel, weil du ihm das eine für das andere brachtest. In einem Dorf bleibt doch nichts geheim. Warum hast du dann versucht, mir was vorzumachen? Du bist kein Schreiner. Was du gemacht hast, kann jeder machen. Du warst Estebans Botenjunge. Hab ich doch gesagt, hier weiß man alles. Ein Dorf. Aber fragen Sie doch Esteban, ob er Klagen hat, ob ich nicht ein guter Arbeiter war. Ja, ja, das glaube ich ja, aber wenn ich jemanden brauche, dann ist das ein Schreiner. Zum Ein- und Ausladen habe ich Leute genug. Und recht hat er, es war nicht nötig, vor ihm herumzukriechen und ihm das vom
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