Am Ufer (German Edition)
Leonor? Bei Sturm lief das Meerwasser in die Häuser, die keine Toiletten, keinerlei Komfort hatten), er meinte jene, die von dem Magnet Küste, von dem Zauber des Meeres angezogen wurden, der zu all dem Betrieb und der ganzen Spekulation in den letzten Jahrzehnten geführt hat, zu einer Invasion, an dermein Onkel nun Anteil hatte. Misent. Das Meer brachte im 20. Jahrhundert die ersten Touristen nach Misent – ein paar betuchte Bürger, Familien mit aristokratischem Gehabe –, so wie es in den Jahrhunderten zuvor Kaufleute, Abenteurer und Schmuggler (das Meer als Quelle der Gewalt) gebracht hatte, Eindringlinge, vor denen sich die Süßwassermenschen schützen mussten, sie waren gezwungen, die Küste mit Wachtürmen und Festungen zu bestücken, die sich inmitten der Sumpflandschaft erhoben, das ungewisse Meer als Metapher für moralische Zweideutigkeit: die Kasinos von Misent, die Bordelle, die Kneipen und die Cafés, sie zogen die Seeleute an, die an den Pollern des Hafens anmachten, und auch die kleinen Bauern aus den Dörfern im Inland zu Ende des 19., Anfang des 20. Jahrhunderts. Sie deckten sich in den Geschäften ein, ließen sich in den Arztpraxen abhören, unterzeichneten Dokumente beim Notar und frequentierten Cafés, Kasinos, das Roulette – bis die Bombardements im Bürgerkrieg den Hafen auf Jahrzehnte unbrauchbar machten und Misent zur toten Stadt wurde: Es legten keine Schiffe mehr an, die Holz und Zement löschten und dafür Rosinen und Feigen, Orangen, Pampelmusen und Granatäpfel luden, in knallig bunt bemalten Holzkisten, darin die Früchte, gewickelt in zartes Seidenpapier, ihren Platz und ihre Ordnung fanden. Nach wie vor kamen die bourgeoisen Familien zur Sommerfrische und hatten ihre Cafés an der Avenida Orts, es handelte sich aber noch nicht um Invasoren, die Sommerfrischler waren so etwas wie Gäste, sie wohnten in eleganten Villen, deren Fassaden Stuckgesimse zierten, hinter hohen Gartenmauern, bedeckt von Jasmin, Nachtjasmin und Glyzinien, mit Blick auf die Weinberge, gelegen auf den Hügeln, die sich aus der Ebene erheben. Für jene Leute war das Meer nur eine blaue Borte am Horizont, sie gehörten nicht zu dieser Invasionswelle, die später kam: Zehntausende von Spinnern (ja, Spinner, so hat er sie genannt, Spinner, Bekloppte), die sich Apartments am Meeresufer kauften; wer hat denn je am Ufer gewohnt, sagte er, am Ufer haben immer die ärmlichsten Häuser gestanden, von Fischernund Leuten ohne Beruf, und dann natürlich die Lagerschuppen der Kaufleute, denen nichts anderes übrigblieb, als am Ort des Geschehens zu sein, und die Kneipen und Pensionen für Matrosen und Huren. Ich sehe die Dinge ein wenig so, wie er sie sah, und in diesem Maremagnum scheint mir der Sumpf der einzige Nukleus für den Fortbestand einer zeitlosen Welt, zugleich verletzlich und energiegeladen, sie hält sich im Zentrum des schrumpfenden Flickenteppichs – grünes Chagrinleder – aus Orangen- und Pampelmusenhainen, Obstplantagen und Gemüsegärten, die dank eines komplizierten Grabensystems vom Sumpf trinken. Natur nennen wir Formen der Künstlichkeit, die der unseren vorausgingen, wir nehmen uns nicht die Zeit zu erkennen, dass Landschaften nicht ewig sind, sie waren und sind, wie wir, dazu verdammt, einmal nicht mehr zu sein, und das geht zuweilen auch schneller als bei uns. Davon kann ich Zeugnis ablegen. Man muss sich nur ansehen, was in den letzten zwanzig Jahren geschehen ist. Aber was hast du denn? Nichts, nein, lassen Sie nur, machen Sie sich keine Gedanken, es ist nichts, ich weine nicht; oder doch, ja, ich weine, Don Esteban, ich weine, aber wegen nichts und wieder nichts, das ist meine Sache, das sind meine Sorgen, mit denen ich Sie wirklich nicht belästigen darf, es sind meine Angelegenheiten, meine Probleme. Aber beruhig dich doch, Kindchen, sag mir, was dich bedrückt. Hör auf, bitte. Sag mir, woher diese Tränen kommen, nur ruhig, atme mal durch, so, hier hast du ein Taschentuch, wisch die Tränen ab, so, zeig mal dein Gesicht, komm, heb es noch ein wenig, lass mich mal machen, siehst du, jetzt ist es besser, na so was, schon gut, ganz ruhig, du bist so hübsch, wenn du lächelst, und wirst hässlich, wenn du weinst, aber das ist nicht wahr, du wirst überhaupt nicht hässlich, hübsch bist du immer, aber ich mag dich nicht traurig sehen, zeig her, ich komm noch mal mit dem Taschen tuch, verzeihen Sie, verzeihen Sie diese Vertraulichkeit, aber nein doch, keine Sorge, du kannst den Kopf an
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