Am Ufer (German Edition)
Schreiner werden wollte. Er hatte was für die Mechanik übrig, baute gern Teile in Autos und Motorräder ein. Obwohl er sich zunächst mit aller Kraft dagegen gewehrt hatte, gab mein Vater schließlich nach und half ihm dabei, eine Autowerkstatt aufzumachen, die schließlich in den Händen seiner Frau und ihrer Brüder verblieb, kein schönes Ende und kein vorbildliches Nachspiel. Schwer verständlich, warum dieses so sehr verliebte Mädchen, Laura (der Vater hat ihr diesen Namen wohl nach dem gleichnamigen Film gegeben, sie war sieben oder acht Jahre jünger als Germán), das meinen Bruder immer am Arm nahm, ihn abküsste, die fröhliche, hilfsbereite junge Frau, die beim Kochen und Tischdecken hilft, sorgsam in allen Details des Haushalts, immer aufmerksam für alle familiären Nöte, die meiner Mutter kleine Geschenke bringt und sie Mama nennt und meinem Vater Küsschen gibt und ihn Papa nennt, die es geschafft hat, dass er nicht knurrt, wenn er an seiner Wange ihre Lippen spürt, sogar gerührt ist über das Paar Socken oder den Pullover, den sie ihm gerade geschenkt hat, fleißig, aufopferungsvoll, dass ausgerechnet sie es war, die alle Beziehungen zu unserer Familie abbrach, sobald Germán gestorben war. Sie war nicht einmal besonders nett zu ihrem kranken Mann, seitdem sie wusste, dass es sich um einen tödlichen Krebs handelte. Bei allem, was uns, ihre angeheiratete Familie, anging, wurde sie von einer kühlen Teilnahmslosigkeit befallen. Germán wurde mehr von meiner Mutter als von ihr gepflegt, die sich die letzten Tage beim Grundbuchamt, den Banken, dem Notar, der Anwaltskanzlei herumtrieb, um alles festzuzurren, sie ließ meinen Bruder Dokumente unterschreiben, als er schon nicht mehr den Federhalter halten konnte. Sogar meinen Vater beorderte sie zu sich, auch er sollte eine Reihe von Papieren unterschreiben. Wegen der Kinder, rechtfertigte sie sich. Am Ende gehörten ihr die Werkstatt und das Haus, die mein Bruder mit dem väterlichen Geld aufgebaut hatte. Mehrere Jahre lang musstemein Vater noch die fälligen Wechsel zahlen. Ja nun, was war dann diese sanfte Stimme gewesen (die Schwägerin ähnelte nicht der ranken Gene Tierney, die in dem Film die Laura spielt; sie war klein, mollig und hatte ein sehr fröhliches Gesicht), diese Hyperaktivität im Haushalt, wenn sie bei uns zum Essen waren, wie eifrig sie den Tisch deckte, das Tischtuch streckte und bügelte, in der Küche half, so liebenswürdig war sie, die kleine fleißige Ameise, die zu meinen Eltern Mama und Papa sagte und meinen Bruder abküsste, ihm den Kragen des Hemdes zurechtrückte und ihm auf den Hintern klopfte oder sich an seinen Bauch schmiegte oder ihre Finger zwischen die seinen steckte und ihm berückt in die Augen schaute. Alles Theater? Sind wir alle Schauspieler, die irgendwann ihre Rolle satthaben und das Kostüm abwerfen? Oder kann man sagen, dass es echte Menschen gibt? Aber was ist das, was bedeutet das, echte Menschen? Und wenn das nichts bedeutet, nichts ist, was hat dann das Leben für einen Sinn? Was wird aus uns, wenn es solche Menschen nicht gibt? Man neigt zu der Ansicht, dass sich das wahre Gesicht der Menschen in Momenten der Entscheidung zeigt, auf Messers Schneide, wenn sie an ihre Grenzen kommen. Das ist der Moment für Helden und Heilige. Und, schau an, das menschliche Verhalten pflegt in solchen Situationen weder vorbildlich noch ermutigend zu sein. Die Gruppe, die sich mit den Ellbogen vorwärtsdrängt, um zuerst an den Kartenschalter für ein Konzert zu kommen; die Zuschauer, die einander bei der Flucht aus dem brennenden Theater niedertrampeln und über die Schwächsten hinwegeilen, das Kind, das welke Fleisch des Greises unter den Sohlen der blicklos Flüchtenden, aufgespießt von den Pfennigabsätzen der abendlich elegant gekleideten jungen Damen; die ehrbaren Bürger der Stadt, Frauen inbegriffen, egal ob aus wohlhabender oder Arbeiterfamilie, da gibt es keinen Unterschied, die mit den Rudern wütend auf die Köpfe der Schiffbrüchigen schlagen, die ins übervolle Rettungsboot wollen. Rette sich, wer kann. Ja, ja, wir wissen schon, Vater, dein Standpunk in der Welt ist leicht zu behaupten, das Leben übernimmt es,dir Tag für Tag recht zu geben. Die große Menschenfamilie. Von den zwei Enkeln, die dir dein ältester Sohn geschenkt hat, haben wir nie wieder etwas gehört: verschwunden. Dann und wann weinte meine Mutter ihnen nach: Ich habe Enkel, aber es ist, als hätte ich keine. Diese schamlose Person
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