Am Ufer (German Edition)
Er hat das Gläschen ein paar Mal nachgefüllt und trank ganz langsam, wie um Kraft zu schöpfen. So war es jeden Nachmittag, bevor um vier wieder die Werkstatt geöffnet wurde. Sie warfen sich Beleidigungen an den Kopf, er schien sie nicht zu hören, aber sein Gesicht wurde an jenem Tag immer grauer, die Haut über den Backen angespannter, die Backenknochen spitzer. Ich kannte das gut, so zeigte sich bei ihm der Zorn. Als nach einer Weile die Barrow-Bande – unsere Familienversion von Bonnie and Clyde – das Haus verließ, stand er auf, ging in das Zimmer, das sie besetzt hatten (das mit dem Ehebett, in dem er bis zum Tod meiner Mutter geschlafen hatte, das den Kindern verbotene Sanktuarium, wenn er BBC und Pirenaica hörte; ichkann mir immer noch nicht erklären, warum er ihnen erlaubt hat, sich dort breitzumachen), sammelte selbst die Kleider zusammen und stopfte sie irgendwie in die Koffer und Taschen, murrend und schnaufend (dieses profanierte Ehebett, der Geruch des Parfüms, der die leichte Spur von Orienthölzern, den Duft meiner Mutter, der noch im Zimmer hing, verdrängte – ich glaube, die Vorstellung von einer Entweihung hatte ihn plötzlich und mit ganzer Wucht getroffen). Du hast damit nichts zu tun, geh schon mal runter in die Schreinerei, das Gitter muss hochgezogen werden, sagte er zu mir, als er sah, wie ich, an den Türrahmen gelehnt, ihn beobachtete. In diesem Haus habe ich nie mit etwas zu tun gehabt. In der Werkstatt steckte ich mir eine Zigarette an, nicht im kleinen Büro, sondern in der Werkstatt, ich saß auf dem Boden, den Rücken an den Holzschneider gelehnt. Mein Vater wollte nicht, dass jemand dort rauchte, da ist das Sägemehl, die Sägespäne, der Leim, Lacke, Farben, wir arbeiten mit brennbaren Materialien, man raucht zu Hause, auf der Straße, man kann im Büro rauchen, hinter der Glaswand, aber nicht in der Werkstatt, obwohl er selbst sich, die Zigarre im Mund, von hier nach dort bewegte, allerdings, zugegeben, sie war meistens schon ausgegangen. Das hier würde nicht mal brennen, wenn du es in Benzin steckst, knurrte er, während er mit dem Zeigefinger auf die Zigarre klopfte, um die eigene Inkonsequenz zu rechtfertigen. Inzwischen hatte er das Gepäck des Pärchens hinausgebracht und warf es vor die Tür. Er schloss die Tür von innen ab, ließ den Schlüssel stecken und schob die beiden Riegel vor. An diesem Nachmittag kam er nicht zur Arbeit und wollte auch nicht mit mir abendessen. Nachts hörte ich von meinem Zimmer aus, wie eine Weile am Schloss herumgekratzt wurde. Dann war die Stimme meines Bruders zu hören, in verschiedenen Tonlagen und Registern: erst war es ein Geflüster; daraufhin begann er nach uns zu rufen, erst sanft, mit großer Zärtlichkeit, dann irritiert, später brüllend; er klagte, fluchte, Herrgottscheiße, er spuckte Schimpfwörter aus, in einem Crescendo, das in einem langen und lauten Schlagzeug-Solo an der Türgipfelte, es waren wohl wiederholte Fußtritte. Dann: die Stille der Nacht, das Krikri einer Grille, der Motor eines Autos, das ferne Bellen eines Hundes. Die friedliche Nacht von Olba.
Das war das letzte Mal, dass ich Juans Stimme live hörte. Seitdem haben wir nichts mehr von ihm gehört. Kein Brief, keine Postkarte, nur der mysteriöse Anruf aus Málaga vor drei oder vier Jahren (sieben oder acht Jahre nach der Räumung), als er mir erzählte – er wird schon gewusst haben warum, vielleicht wollte er nur überprüfen, ob der Alte noch lebte, oder ob er schon vorbeikommen konnte, um das Erbe einzusammeln –, wie gut es ihm mit seiner neuen Firma ginge, die mit dem Immobiliengeschäft zu tun hatte (oder direkt mit dem Baugewerbe? Ich weiß nicht mehr genau). Mein Vater hatte ja nicht den Telefonhörer nehmen wollen, den ich ihm reichte, als ich Juans Stimme hörte. Seine letzten Worte: Hol euch doch. Er sagte nicht: Hol ihn doch. Er bezog mich in seine Verwünschung mit ein. Aber ich bin davon überzeugt, dass er, sobald der Alte tot ist, hier auftauchen wird, um seinen Teil des Erbes einzufordern, den wir ihm damals vorstrecken sollten: Bei seiner Rückkehr wird er überzeugt davon sein, dass das Erbe wie ein Bulimiker in einer Amikomödie weiter zugenommen hat (er hat immer das geglaubt, was ihm zupasskam, was er sich wünschte, nie hat er sich nach dem Realitätsprinzip gerichtet), da für sein fieberndes Hirn die Schreinerei ein fabelhaftes Geschäft war – zumal in den Zeiten des Booms – und dass sich irgendwo im Keller, an dem
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