Am Ufer (German Edition)
bei ihm diese Energieübertragung wie bei meinem Onkel gespürt, wenn er mich zur Jagd in den Sumpf mitnahm, wenn er mich auf seine Kniesetzte, damit ich eine Briefmarke auf einen Umschlag klebte, oder als er mir zum Spielen die Holzkarre baute, Geschenkkatalog der Armen: ein Bambusrohr zwischen den Beinen ist ein Pferd, auf dem du galoppierst; ein Vogel mit einer Schnur ums Bein ein Freund, ich sprach mit dem Tierchen und fütterte es mit Brotstückchen, in Milch getunkt, und als der Vogel eines Morgens verschwunden war, erlebte ich das als Verrat, als böswilliges Verlassen und weinte bitterlich. Der Vogel war vermutlich gestorben, und meine Mutter hatte ihn verschwinden lassen, bevor ich ihn sah, sie hatte dabei aber nicht bedacht, dass es viel schlimmer ist, wenn dich jemand ohne jede Erklärung verlässt, beunruhigender als der Tod selbst, der ja kein Willensakt ist, nicht eine Entscheidung des Subjekts – zumindest in den meisten Fällen –, sondern etwas, das einem widerfährt; handelt es sich jedoch um eine bewusste Entscheidung, dann löst diese unendlichen Schmerz bei den Zurückgelassenen aus, Gewissensbisse, ist es doch eine Flucht vor ihnen, ein Verlassen, eine Strafe. Was haben wir getan, dass er beschloss, uns zu verlassen? Es hat ihm doch nichts gefehlt, er konnte doch nicht behaupten, nicht geliebt zu werden, klagt die Witwe, ich habe ihn doch wie einen Fürsten behandelt, der beste Bissen, der beste Sessel, die Fernbedienung. Warum nur hat er diesen Koller bekommen und sich umgebracht? Das wird mein Problem nicht sein. Leonor, Liliana: Vögel auf der Flucht. Der neue Schmerz überdeckt den der alten Wunden.
Was mein Vater mir beigebracht hat. Zu Hause: Halt das Besteck richtig, du hast doch zwei Hände; kannst du die Tür nicht leise schließen? Was pinnst du da für Scheißplakate an die Wand, du ruinierst sie ja mit den Reißzwecken, die sieht ja bald wie ein Sieb aus. Bei der Arbeit: So führt man eine Säge nicht, du wirst dir noch die Hand abschneiden, am Ende habe ich gar einen Krüppel zum Sohn, einen Klotz am Bein, es wird langsam Zeit, dass du das Leimen lernst und nicht mehr so eine Sauerei anrichtest. Immer in rauem Ton (wer nicht geschunden wird, wird nicht erzogen: Schinderei,immer die Spur des Geschundenen), stets stellte er meinen Mangel an Geschicklichkeit heraus und deckelte damit, das vor allem, meine Zukunftserwartungen, so wie das Leben die seinigen gedeckelt hatte. Was die Sieger nach dem Krieg mit ihm gemacht hatten, ließ er an mir aus, dem einzigen Sohn, den er zur Hand hatte. Ich kann nicht sagen, dass ich ihn je lieben lernte. Ich habe dafür gezahlt, nicht die Erwartungen zu erfüllen, die er in mich gelegt hatte. Wie der Selbstmörder, der sich tötet, weil er sich selbst nicht akzeptiert, hasste er mich wahrscheinlich, weil ich, auch wenn ich scheinbar sein genaues Gegenteil war (weder wollte ich Künstler werden, noch teilte ich seine politischen Interessen), ihm doch am ähnlichsten war. Mit einem anderen Körper, er war hochgewachsen, hatte ein kantiges Gesicht, große Augen, einen gewissermaßen dramatischen Ausdruck, der durch den intensiven Blick und die tiefen Falten entstand, die seit Jahrzehnten sein Gesicht durchfurchen. Ich vermute, dass er die Frauen anzog. Die mögen solche Typen, bei denen sie ein reiches Innenleben vermuten. Liliana sagt, dass er mit über neunzig immer noch gut aussieht, und wenn sie das Hochzeitsbild auf der Anrichte sieht, bekräftigt sie: Er war ein wirklich gut aussehender Mann. Aber im Grunde sind er und ich ein und dasselbe. Der gleiche Pessimismus. Die gleiche Überzeugung, dass der Mensch ein zusammengeflickter Sack voll Dreck ist. Ich glaube, dass diese Vorstellung meine postkoitalen Depressionen verstärkt. Der Verdacht, dass mich der Schmutz anzieht; dass ich einen dieser fauligen Säcke angetatscht habe, etwas von meinem Dreck darin entleert habe. Ich frage mich, warum ich den dienenden Part übernommen habe. Da wir doch gleich sind, hätten wir Partner sein müssen oder zumindest Rivalen unter gleichen Bedingungen. Die Gründe sind schwer zu finden: die findet man nicht, wie man Herz, Leber und Milz findet, wenn man eine Leiche öffnet. An die Ängste, die Wünsche reicht das Seziermesser nicht heran. Aber, ehrlich gesagt, ich finde es auch nicht weiter schlimm, jemanden nicht zu lieben, was heißt schon lieben. Die meisten Leute leben zusammen,ohne etwas zu vermissen; dazu kommt es erst, wenn wir in Romanen davon lesen
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