Am Ufer (German Edition)
Álvaro so weitermacht.
Meine Schwester Carmen kommt schon seit Jahrzehnten nicht mehr zu Besuch, wie sie es früher ein paar Mal im Jahr tat, dabei die Kinder und manchmal auch den Mann mitbrachte. Sie ist nur für einen Blitzbesuch aufgetaucht, als mein Vater operiert wurde. Als ihre Kinder klein waren, machten sie es sich hier den Sommer über bequem, auch wenn sie außer zum Schlafen keinen Fuß ins Haus setzten; den Tag über verbrachten sie am Strand und den Abend aufder Terrasse einer der Eisdielen an der Avenida Orts in Misent. Ihr Mann stieß zu ihnen, wenn die Textilfabrik ihm freigab, gewöhnlich in der zweiten Augusthälfte. Das Haus füllte sich mit Stimmen und vielfarbigem Krimskrams von der Sorte, die bei Kindern zu finden ist: kleine Plastikautos undflugzeuge, Tütchen mit Bonbons oder getrockneten Früchten, Kaugummis, die unter der Ablage über dem Waschbecken klebten, Schwimmflügel, Gummiflossen und Taucherbrillen mit Mundteil und Schnorchel, die zum Ärger meines Vaters auf den Stühlen in der Diele lagen. Wisst ihr denn nicht, dass das Salz den Lack anfrisst und das Holz beschädigt? Solche Dinge gehören raus, man lässt sie auf der Terrasse. Sie bereiteten Unannehmlichkeiten, zweifellos; aber sie belebten auch das Haus, welches das restliche Jahr über so still und geradezu düster wirkte, besonders seit meine Mutter gestorben war, sie hatte bis in ihre letzten Jahre die Gewohnheit beibehalten, Liedchen zu trällern, während sie den Boden schrubbte, die Polstermöbel ausklopfte und im Hof die Wäsche aufhängte –
La Bienpagá
;
Picadita de viruelas
;
Angelitos negros
;
Rocío, ay mi Rocío
. Wenn sie sich in einem Sommer verspäteten, oder damals, als sie nicht kamen, weil sie nach Galicien gefahren waren, schickte Carmen wenigstens Fotos, damit wir mitbekamen, wie die Kinder heranwuchsen (mit den Jahren waren das dann die Fotos der Enkel, die sie nie herbrachte, schuld daran, wie gesagt, waren die Schwiegertöchter), ich nehme an, mein Vater und ich sollten uns in die Bilder verschauen, immerhin, ich war der unverheiratete Onkel, den die Kleinen beerben sollten. Aber das mit der bildlich vermittelten Liebe, das gibt es nicht mehr, das gehört in andere Zeiten. Die Könige bekamen ein Bildnis ihrer künftigen Gattin und hatten Jahre Zeit, sich zu verlieben, bis die Dame eines Tages leibhaftig vor dem Tor des Palastes auftauchte. Die Indianos, die Spanier in Übersee, heirateten irgendein armes Mädel, mit dem sie Fotos und Briefe getauscht hatten, das überquerte dann, fügsam und ängstlich, den Ozean, hin zu einem unbekannten Gatten, bei dem vermeintlich weniger Elend herrschte als zu Hause. Noch Mitteder Fünfzigerjahre war in Olba von dem einen oder anderen Fall die Rede: Ein Mädchen, das der Armut entkommen wollte, fiel einem unbekannten, angeblich reichen Emigranten in die Arme, der sich dann als ein heruntergekommener und grausamer Habenichts erwies. Heute halten wir es für selbstverständlich, dass man, um jemanden lieb zu gewinnen, sich an diesen Menschen gewöhnen muss, mit ihm zusammenleben, er muss zum Alltag gehören und vermisst werden, wenn er nicht da ist. Und, wie gesagt, von meiner Schwester, meinem Schwager und den Kindern war gerade mal samstags und sonntags, wenn mein Vater und ich später aufstanden, beim Frühstück etwas zu sehen. Unter der Woche sah ich meine Neffen nur nachts, sie schliefen zusammen in dem Bett neben dem meinen, ich musste das Zimmer mit ihnen teilen. Solange sie im Haus waren, empfand ich sie als lästig, aber wenn sie wieder wegfuhren, vermisste ich sie. Mit dem Internet haben sich ja teilweise die alten Gewohnheiten der Fernliebe wieder eingestellt, die jungen Leute – und auch die reiferen – zeigen einander Fotos zum Scharfwerden, das ist meine Möse, das ist mein Schwanz, NEUNZEHN ZENTIMETER , und sie schreiben sich Schweinkram, erregen sich und wichsen, alles zur gleichen Zeit, sehen einander auf dem Computerschirm (Hast du eine Webcam?) oder auf dem des Mobiltelefons, ungefähr so wie früher (immer das Gleiche: Text und Fotos, die Menschheit hat seit Jahrtausenden keine andere Art der Präsentation erfunden, einst schickten sich die Erbprinzen ein Ölbild, ein Medaillon mit Bildnis und legten ein Begleitschreiben bei, wie ich sage: Text und Fotos), nur jetzt geschieht das Zug um Zug. Um solcherlei Dinge zu schreiben, musstest du vor ein paar Jahren noch ein Marquis de Sade sein oder zumindest Casanova. Auf dem Foto ist nicht mal ihr
Weitere Kostenlose Bücher