.Am Vorabend der Ewigkeit
oder nicht – warten wir, bis er Große Mund singt. Dann werden wir sehen, was sie tun.« Es war Iccall, der das sagte. Als letzter verließ er die Höhle.
14
Während die beiden Menschen schliefen, dachte die Morchel nach. Ganz unvermutet war sie auf ungeahnte Möglichkeiten gestoßen, so wie ein Kind, das in einer Höhle stöbert und einen Beutel mit Diamanten findet. Es konnte keine besseren Träger für sie geben als die Menschen. Dann erklang ein merkwürdiges Geräusch, anschwellend und wieder absinkend, lockend und drohend zugleich.
Poyly fuhr auf und weckte Gren.
»Hörst du es ...? Was ist das?«
Es war wie das Heulen des Windes, aber es drang nicht in die Ohren, sondern direkt ins Blut. Es war zwingend und unwiderstehlich.
»Der Große Mund«, hauchte Gren und erhob sich. Er verließ die Höhle, und Poyly konnte nichts anderes tun, als ihm zu folgen.
Draußen erwartete sie ein Alptraum.
Das Heulen war zu einer Melodie geworden, die jeden in ihren Bann zwang. Grens Glieder begannen konvulsivisch zu zucken. Er hatte keine Gewalt mehr über sie. Poyly erging es ebenso. Aus dem Wald kamen grüne Kreaturen geflogen, flatternd und taumelnd. Alle hatten sie nur ein Ziel:
Den Großen Mund.
»Er singt, und wir müssen zu ihm«, sagte die Morchel.
Gren und Poyly begannen zu laufen.
Dann sahen sie die Hirten. Sie standen am Rande des Waldes und hatten sich mit geflochtenen Stricken an den Ästen festgebunden. In ihrer Mitte war Iccall, der Sänger. Er sang mit lauter Stimme, aber seine Arme und Beine versuchten dabei, sich von dem Strick zu befreien. Gren und Poyly verstanden die Worte nicht, aber sie spürten die Kraft, die von seinem Gesang ausging.
Der Große Mund aber war stärker.
Sie begann zu rennen, fort vom Wald und dem Vulkan entgegen. Unbekannte Lebewesen überholten sie. In breitem Strom wälzte sich alles Leben dem Kegelberg entgegen, nahm den stellen Hang und floß schließlich über die Kraterwände hinab in das Grauen.
Yattmur hatte ihre Fessel gelöst. Sie rannte hinter Gren und Poyly her. Dabei sang sie, als wolle sie mit ihrer Stimme den Zauber des Großen Mundes brechen. Als sie die beiden erreichte, ergriff sie ihre Hände.
»Wenn ihr leben wollt«, sagte die Morchel, »brecht nach rechts aus.«
Rechts standen Pflanzen, deren Wurzeln im Lavaboden Fuß gefaßt hatten. Ohne zu zögern, rannten die drei Menschen darauf zu, denn Yattmurs Gesang war für einen Augenblick stärker als die lockende Melodie des Berges. Sie hielten an, und Yattmur sank gegen Grens Brust.
In diesem Augenblick begann sie etwas zu umschließen.
Yattmur war die erste, die begriff.
»Ein Grünmagen!« Ihre Stimme war ängstlich und schrill. »Wir sind von einem Grünmagen eingefangen worden!«
»Dein Schwert, Gren!« riet die Morchel. »Ihr müßt euch einen Weg ins Freie schlagen. Beeilt euch!«
Der letzte Spalt hatte sich geschlossen. Es war dunkel geworden. Die Decke senkte sich auf sie herab. Kein Zweifel, sie waren bereits im Magen des grausigen Geschöpfes.
Sie nahmen ihre Schwerter und hieben gegen die gummiartigen Wände. Es dauerte lange, aber dann schlug Gren eine Bresche. Ein Riß entstand, und das Tageslicht flutete herein. Die beiden Mädchen vergrößerten ihn. Dann konnten sie hinausklettern, wo sie fast augenblicklich wieder vom Gesang des Großen Mundes in den Bann gezogen wurden.
Ihre Füße standen in einer gallertartigen Masse. Der Grünmagen saß am Felsen fest und konnte somit der Lockung des Vulkans nicht erliegen. Er war in sich zusammengesunken und schien den Tod zu erwarten.
»Wir müssen gehen«, sagte Poyly. Sie bekam ihren Fuß aus der klebrigen Masse frei. Die anderen folgten ihr. Die unheimliche Macht hatte erneut von ihnen Besitz ergriffen.
Der Weg zum Gipfel war schwer, und sie kamen nur langsam voran. Ganze Herden von Hüpfern überholten sie, vom gleichen Drang getrieben. Alle wollten sich in den Krater stürzen, um den gewaltigen Sänger zu sehen, ihm zu huldigen und zu sterben.
Der Kraterrand kam näher.
Und dann, von einer Sekunde zur anderen, hörte der Gesang auf.
Die plötzliche Stille kam so überraschend, daß die drei Menschen zu Boden stürzten und ihre Gesichter in den Staub preßten. Alle Kraft hatte sie verlassen. Aber auch der tödliche Wunsch war nicht mehr vorhanden. Zusammen mit der Melodie war er erloschen.
Langsam öffnete Gren die Augen.
So wie vorher der Wunsch übermächtig gewesen war, sich dem Krater zu nähern, hatte er sich nun ins
Weitere Kostenlose Bücher