Amanda Jaffe 01 - Die Hand des Dr Cardoni
Vorstadtwohnung. Auf der einen Seite des Gebäudekomplexes brauste der Autobahnverkehr vorbei, auf der anderen verlief eine Einkaufsstraße. Nach Abzug der Steuern und der Alimente für sein Kind konnte er sich wirklich nichts Besseres leisten. Neben dem Parkplatz befanden sich zwei Reihen Briefkästen. Er holte seine Post und blätterte sie durch, während er zu seiner Wohnung im ersten Stock hochstieg. Reklame und Rechnungen. Was erwartete er denn? Wer sollte ihm schon schreiben?
Vasquez schloss seine Tür auf und schaltete das Licht ein. Die Möbel im Wohnzimmer waren aus zweiter Hand und von einer dünnen Staubschicht bedeckt. Die Seiten einer drei Tage alten Oregonian lagen verstreut auf dem Boden, auf der durchgesessenen Couch und auf einem Ende des niederen Sperrholztisches. Jedes Wochenende nahm Vasquez sich vor, endlich aufzuräumen, aber die Mühe machte er sich nur, wenn Schmutz und Unrat wirklich unerträglich wurden. Er war ja kaum zu Hause. Als verdeckter Ermittler war er zu allen möglichen Tages- und Nachtzeiten unterwegs, und seine Freizeit vertrieb er sich mit Yvette Stewart, einer Kellnerin in der Polizistenbar, in der er sich betrank. Seine Frau hatte ihn verlassen, weil er nie zu Hause war, und nachdem er in dieses Dreckloch gezogen war, hatte er diese Tradition beibehalten.
Vasquez warf seine Post auf den Sperrholztisch und ging in die Küche. Im Kühlschrank war nichts außer einem Sechserpack, einem Karton sauer gewordene Milch und einem halben Laib altbackenem Brot. Vasquez war es egal. Er war sowieso zu erschöpft, um hungrig zu sein. Und auch zu erschöpft, um zu schlafen.
Er ließ sich auf die Couch fallen, riss eine Bierdose auf und zappte durch die Fernsehkanäle, bis er den Sportsender fand. Er schloss die Augen und drückte sich die kalte Dose an die Stirn. Bis jetzt lief alles sehr gut. Cardoni war im Gefängnis, und alle schienen ihm seine Geschichte mit der Durchsuchung abgekauft zu haben. Es war befriedigend, wenn hin und wieder einmal etwas gut ging. Was Vasquez außerdem noch freute, war Cardonis Behauptung, dass die Berghütte in Milton County ihm gar nicht gehöre. So etwas war leicht nachzuprüfen.
Vasquez schaltete den Fernseher aus und stemmte sich von der Couch hoch. Die zerdrückten Zeitungsseiten und die Bierdose warf er in den Müll. Dann schleppte er sich ins Bad. Während er sich die Zähne putzte, genoss er den Gedanken, dass Dr. Vincent Cardoni die erste Nacht einer vermutlich endlosen Zahl von Tagen hinter Gittern verbrachte.
15
Frank Jaffe saß in einer Nische im hinteren Teil von Stokely's Cafe an der Jefferson Street in Cedar City und aß seinen Apfelkuchen auf, während er die letzte Seite der Polizeiberichte las, die Frank Scofield ihm an diesem Vormittag gegeben hatte. Das Cafe war immer eine Oase gewesen, wenn Frank, sein Vater und andere müde Jäger, erschöpft vom stundenlangen Stapfen durch dichtes Unterholz, nichts anderes vorzuweisen hatten als Kratzer, triefende Nasen und Geschichten über riesige Böcke, die ihnen entwischt waren. Hier hatte Frank seine erste Tasse Kaffee bestellt und sein erstes Bier getrunken. Als Amanda alt genug war, hatte er ihr das Schießen beigebracht und sie in die Wunder von Stokelys paniertem Steak und heißem Apfelkuchen eingeweiht.
Frank trank seinen Kaffee aus und bezahlte die Rechnung. Das Gefängnis von Milton County befand sich nur drei Blocks entfernt an der Jefferson Street in einem modernen Anbau hinter dem Bezirksgericht, und Frank machte sich dorthin auf den Weg. In Franks Jugend hatte Cedar City um die dreizehnhundert Einwohner gehabt, und die Jefferson war die einzige gepflasterte Straße gewesen, aber seitdem hatten Stadtentwickler den Ort zerstört. Eisenwarenläden und Lebensmittelgeschäfte in Familienbesitz starben einen langsamen Tod, während die Filialen landesweiter Ketten sich breit machten. Am Ostende der Stadt befand sich ein Einkaufszentrum mit einem Multiplex-Kino, Stokely war gezwungen, caffe latte auf die Getränkekarte zu setzen, um überleben zu können, und der dreistöckige Ziegelbau, in dem sich das Gericht befand, war eins der wenigen Gebäude, die älter waren als dreißig Jahre.
Nachdem Frank sich beim Deputy am Eingang angemeldet hatte, wurde er zum Besuchszimmer für Anwälte geführt. Kurz darauf öffnete sich die dicke Metalltür und Vincent Cardoni wurde hereingebracht. Der Chirurg trug einen orangefarbenen Gefängnistrainingsanzug, und er hatte dunkle Ringe unter den Augen.
Weitere Kostenlose Bücher