Amanda Jaffe 01 - Die Hand des Dr Cardoni
hegte, dass er sich ihr offenbarte, aber sein Frontalangriff kam so schnell, dass sie keine Zeit zum Nachdenken hatte.
»Ich weiß nicht mehr, was ich empfunden habe, als du weggingst, Tony. Das ist Jahre her, und seitdem ist viel passiert.«
»Vielleicht machen wir es am besten so«, sagte er, »vielleicht sollten wir wieder ganz von vorne anfangen und sehen, was daraus wird. Ist das okay? Meinst du, auch für dich?«
Amanda lächelte. »Ich bin doch hier, nicht?“
»Stimmt. Versetzt hast du mich nicht.«
»Und ein blaues Auge habe ich dir auch nicht verpasst.« Sie lächelte. »Zumindest noch nicht.«
Der Kellner kam, und Tony schien froh zu sein über die Unterbrechung. Nachdem sie bestellt hatten, entschied Amanda sich für ein unverfängliches Gesprächsthema.
»Was machst du am St. Francis?«
»Ich habe meine Assistenzzeit abgeschlossen und arbeite jetzt als plastischer Chirurg. Letzten Freitag habe ich beim Jahrestreffen der amerikanischen Gesellschaft für plastische und Wiederherstellungs-Chirurgie einen Vortrag gehalten«, sagte Tony stolz.
»Worum ging's?«
»Die langfristigen ästhetischen Auswirkungen der sofortigen im Gegensatz zur verzögerten Brustrekonstruktion unter Verwendung eines gestielten TRAM-Lappens.«
»Und was heißt das für den Laien?«
Tony lachte, »'tschuldigung. Ist eigentlich gar nicht so kompliziert. Nach einer Amputation kann man die Brust auf unterschiedliche Arten rekonstruieren. Bei dem Verfahren mit dem gestielten TRAM-Lappen geht es darum, dass man zur Rekonstruktion Bauchgewebe benutzt. Man muss die Rekonstruktion nicht gleichzeitig mit der Amputation machen. Wenn man will, kann man auch ein Jahr vergehen lassen. Aber ich bin zu dem Schluss gekommen, dass eine sofortige Rekonstruktion besser aussieht, und ich habe über die Gründe für meine Schlussfolgerung gesprochen. Beeindruckt?«, fragte Tony und trank einen Schluck von seiner Margarita.
»Nicht schlecht für einen College-Abbrecher«, antwortete Amanda mit einem Lächeln.
»Aber da du jetzt alles über gestielte TRAM-Lappen weißt, erzähl mir doch, was du inzwischen getan hast. In der Zeitung stand, dass du eben bei einem Fall eine drohende Todesstrafe abwenden konntest. Hast du dich auf Strafrecht spezialisiert wie dein Vater?“
»Ja. Ich glaube, das liegt in meinen Genen.«
»Verteidigst du gerne Kriminelle?«
»Ich weiß nicht, ob gerne das richtige Wort dafür ist. Strafrecht ist aufregend, und ich halte die Arbeit für wichtig. Bei einem Fall wie dem von Justine habe ich das Gefühl, etwas richtig Gutes tun zu können.«
»Wie geht es ihr?«
»Sie ist eine starke Frau. Aber in einer solchen Situation geht es niemandem besonders gut. Sie macht sich Sorgen um ihre Karriere und ihre Zukunft. Das Gefängnis ist ein entsetzlicher Ort, auch wenn man schuldig ist. Wenn man unschuldig ist, dann ist es die Hölle.«
»Du hältst sie also nicht für schuldig?«
»Nein.«
»Warum nicht?«
Amanda wusste nicht so recht, wie viel sie jemandem, der nichts mit Justines Verteidigung zu tun hatte, über den Fall verraten solle. Aber Tony war sehr intelligent, und es wäre interessant zu hören, wie ein juristischer Laie den Fall beurteilte, wenn er die Sachlage kannte.
»Du musst mir versprechen, dass du für dich behältst, was ich dir jetzt sage.«
»Natürlich. Auch Ärzte haben eine Schweigepflicht.«
Amanda berichtete, was sie wusste. Tony wurde hellhörig, als sie die Ähnlichkeit zwischen den Tatorten in Milton County und in Multnomah County beschrieb, und er runzelte die Stirn, als sie ihm sagte, dass ein anonymer Anrufer die Polizei zum Farmhaus geschickt habe.
»Das sieht aus wie ein Komplott«, sagte Tony, nachdem sie geendet hatte. »Ich kann einfach nicht glauben, dass die Polizei das nicht sieht.«
»Ein Komplott passt nicht in ihr Szenario. Es kompliziert die Sache, und die Polizei bevorzugt einfache Lösungen.«
»Was ist mit dem anonymen Anruf, der die Polizei zum Farmhaus schickte? Wie erklären sie sich das?«
»Der Staatsanwalt sagt, er muss das nicht erklären, es sei ja meine Aufgabe, eine Verteidigungsstrategie für Justine aufzubauen.«
»Das ist doch Blödsinn! Es ist offensichtlich ein Komplott. Und weißt du, was ich denke? Es muss jemand sein, der Zugang zum Krankenhaus hat. Denk mal drüber nach! Der OP-Kittel, die Haube, das Skalpell - das ganze Zeug kam doch aus dem St. Francis, und ein zufälliger Besucher kann das nicht so einfach mitnehmen. Man müsste wissen, wann
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