Amber-Zyklus 06 - Die Trümpfe des jungsten Gerichts
einem dunklen Altar und...
Nein! Ich konnte es nicht glauben. Das durfte doch nicht...
Ich spürte eine Verbindung zu dieser Gestalt. Sie war nicht nur symbolisch. Der Mann war wirklich, und er rief mich zu sich. Er ragte höher auf, wurde dreidimensional. Der Raum um mich herum wich zurück, verblaßte. Es war beinahe...
Da.
Es war ein Ort des Zwielichts, eine kleine Schneise in einem wirren Wald. Ein beinahe blutiges Licht erhellte die Tafel vor mir. Der Zauberer, dessen Gesicht durch die Kapuze und den Schatten verborgen war, hantierte mit irgendwelchen Gegenständen auf dem Stein herum, wobei sich seine Hände so schnell bewegten, daß ich ihnen nicht folgen konnte. Ich glaubte, von irgendwoher noch immer den Singsang zu hören, sehr schwach.
Schließlich hob er mit der rechten Hand einen einzelnen Gegenstand hoch und hielt ihn still. Es war ein Dolch aus schwarzem Obsidian. Er legte den linken Arm auf den Altar und fuhr damit über die Oberfläche, so daß er alles andere zu Boden fegte.
Zum erstenmal sah er mich an.
»Komm her!« sagte er dann.
Ich lächelte über die Schlichtheit der Aufforderung. Doch dann spürte ich, daß sich meine Füße bewegten,
ohne daß ich es wollte, und ich wußte, daß in diesem dunklen Schatten ein Zauberbann auf mir lag.
Ich dankte einem anderen Onkel, der am entferntesten Ort wohnte, den man sich vorstellen konnte, als ich Thari sprach und meinerseits einen Zauberbann erwirkte.
Ein durchdringender Schrei, wie von einem herabstürzenden Nachtvogel, erfüllte die Luft.
Der Zauberer ließ sich davon nicht ablenken, und meine Füße wurden auch nicht befreit, doch es gelang mir wenigstens, die Arme zu heben. Ich hielt sie einigermaßen waagrecht, und als sie die Vorderkante des Altars erreichten, kooperierte ich mit dem mich rufenden Bann, indem ich die Kraft jedes roboterartigen Schrittes verstärkte, den ich tat. Ich winkelte die Ellbogen ab.
Der Zauberer holte bereits mit dem Dolch in Richtung meiner Hände aus, aber das war gleichgültig. Ich stemmte mich mit meinem ganzen Gewicht gegen den Stein.
Der Altar fiel nach hinten um. Der Zauberer tat einen Satz, um ihm auszuweichen, aber der Stein traf eines seiner Beine - oder vielleicht sogar beide. Sofort spürte ich, während er zu Boden stürzte, wie der Bann von mir wich. Ich konnte mich wieder normal bewegen und klar denken.
Er zog die Knie bis zur Brust an und rollte sich ab, während ich über den zerstörten Altar sprang und nach ihm griff. Ich folgte ihm, als er einen kleinen Hang hinunterpurzelte und zwischen zwei stehenden Steinen hindurch in den verdunkelten Wald entschwand.
Sobald ich den Rand der Lichtung erreicht hatte, sah ich Augen, Hunderte von wild blickenden Augen, die in unterschiedlichen Höhen aus der Dunkelheit funkelten. Die Inkantation wurde lauter, schien näher zu sein, hinter mir.
Ich drehte mich schnell um.
Der Altar war immer noch zerstört. Eine zweite Gestalt mit Kapuze stand dahinter, viel größer als die erste. Von diesem Mann kam der Beschwörungssingsang, in einer vertrauten männlichen Stimme. Frakir pochte an meinem Handgelenk. Ich spürte, wie sich ein Bann um mich herum aufbaute, doch diesmal traf er mich nicht unvorbereitet.
Ein meinen Schritten entgegengesetzter Ruf brachte einen eisigen Wind mit sich, der den Bann wie dichten Rauch vertrieb. Meine Kleidung peitschte um mich herum, wechselte Form und Farbe. Purpurn, grau... hell die Hose, dunkel der Umhang, die Hemdbrust. Schwarz meine Stiefel und der breite Gürtel mit den eingesteckten Handschuhen, meine silberne Frakir, eingewoben in ein Armband an meinem linken Handgelenk, jetzt sichtbar und glänzend. Ich hob die linke Hand und schützte die Augen mit der rechten, während ich einen Lichtblitz herbeirief.
»Sei still«, sagte ich dann. »Du beleidigst mich.«
Der Singsang hörte auf.
Die Kapuze wurde von seinem Gesicht zurückgeweht, und ich blickte in Melmans ängstliches Gesicht.
»Also gut. Du wolltest mich«, bemerkte ich, »und jetzt hast du mich, der Himmel möge dir helfen. Du sagtest, daß sich alles aufklären werde. Das hat es nicht. Erklär du es!«
Ich trat einen Schritt vor.
»Sprich!« befahl ich. »Es kann leicht sein, oder es kann schwierig sein. Aber du wirst sprechen. Die Wahl liegt bei dir.«
Er warf den Kopf zurück und brüllte: »Meister!«
»Du kannst deinen Meister ruhig herbeirufen«, sagte ich. »Ich werde warten. Denn auch er muß antworten.«
Er brüllte noch einmal, doch es kam
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