Amber-Zyklus 06 - Die Trümpfe des jungsten Gerichts
Backsteingebäuden an. Es regnete immer noch, und der Tag hatte die Strecke bis zum Abend zurückgelegt. Ich sah meinen geparkten Wagen auf der anderen Straßenseite am Rand einer Lichtpfütze, die von einer der nicht zerbrochenen Straßenlaternen stammte. Ich dachte einen Augenblick lang sehnsüchtig an meine trockenen Kleider im Schrank, dann kehrte ich zurück zu dem Schild mit der Aufschrift >brutus - Großlager<.
In dem Büro im ersten Stock brannte ein schwaches Licht und warf ein wenig Helligkeit in die ansonsten dunkle Eingangshalle. Ich schleppte mich die Stufen hinauf, endgültig durchnäßt und einigermaßen wachsam. Die Wohnungstür ließ sich durch ein Drehen des Knopfes und durch Drücken öffnen. Ich knipste das Licht an, trat hinein und verriegelte die Tür hinter mir.
Eine flüchtige Durchsuchung ergab, daß niemand in der Wohnung war, und ich tauschte mein nasses Hemd gegen eines aus Melmans Schrank. Seine Hosen waren mir allerdings in der Taille zu weit und ein wenig zu lang. Ich verstaute meine Trümpfe in einer Brusttasche, wo sie trocken untergebracht waren.
Zweiter Schritt. Ich machte mich an das systematische Durchwühlen der Wohnung. Nach einigen Minuten stieß ich auf sein okkultistisches Tagebuch, das in einer geschlossenen Schublade seines Nachttischs lag. Es war ebenso unordentlich wie alles andere an diesem Ort, mit Schreibfehlern, ausgestrichenen Worten und einigen Bier- und Kaffeeflecken. Anscheinend enthielt es eine Menge abwegiger Hirngespinste, vermischt mit dem üblichen persönlichen Kram - Träumen und Meditationen. Ich blätterte weiter, auf der Suche nach der Stelle, wo er seinen Meister kennengelernt hatte. Ich fand sie und überlas sie flüchtig. Es war ein langatmiger Erguß, der hauptsächlich aus enthusiastischen Schwelgereien über die Wirkung des Baumes bestand, den er bekommen hatte. Ich beschloß, das Lesen auf später zu verschieben, und war im Begriff, das Buch einzustecken, als mir beim letzten Durchblättern der Seiten ein kurzes Gedicht auffiel. Es war im Stil Swinburnes verfaßt, gespickt mit blumigen Vergleichen und voller Verzückung, und die ersten Zeilen, auf die mein Blick fiel, lauteten: >... die unendlichen Schatten von Amber, berührt von ihrem heimtückisch herben Hauch.< Ein übertriebener Stabreim, aber es war der Gedanke, der zählte. Dadurch wurde mein vorheriges Gefühl der Verletzbarkeit wiederbelebt und meine Durchsuchung beschleunigt. Plötzlich wollte ich nur noch von diesem Ort verschwinden, weit weg, und nachdenken.
Der Raum bot keine weiteren Überraschungen. Ich verließ ihn, sammelte eine Armladung herumliegender Zeitungen auf, trug sie ins Badezimmer, warf sie in die Wanne, steckte sie in Brand und öffnete beim Hinausgehen das Fenster. Dann besuchte ich das Allerheiligste, nahm das Gemälde des Lebensbaums an mich, trug es zurück und gab es zu dem Brennmaterial. Ich schaltete das Licht im Badezimmer aus und schloß die Tür hinter mir. Als Kunstkritiker tauge ich nicht viel.
Dann begab ich mich zu den Stapeln verschiedener Papiere in den Bücherregalen und begann mit einer enttäuschenden Suche. Ich hatte den zweiten Haufen etwa zur Hälfte durchgesehen, als das Telefon klingelte.
Die Welt schien zu Eis zu erstarren, während meine Gedanken rasten. Natürlich. Heute war der Tag, an dem ich meinen Weg hierher finden und getötet werden sollte. Ich hielt die Wahrscheinlichkeit für ziemlich groß, daß es, wenn es geschehen sollte, inzwischen bereits geschehen wäre. Der Anrufer konnte also gut S sein, der nachfragte, ob meine Todesanzeige bereits aufgegeben sei. Ich drehte mich um und machte das Telefon ausfindig, hinten an der düsteren Wand in der Nähe des Schlafzimmers. Ich hatte gleich gewußt, daß ich abheben würde. Während ich mich zu ihm hinbewegte, ließ ich es zwei- oder dreimal klingeln - zwölf bis achtzehn Sekunden, während ich die Entscheidung darüber traf, ob meine Antwort aus einer witzigen Bemerkung, einer Beleidigung oder einer Drohung bestehen sollte, oder ob ich versuchen sollte, meine Stimme zu verstellen und zu sehen, was ich vielleicht in Erfahrung bringen könnte. So befriedigend die ersten Versionen auch gewesen wären, der Spielverderber Klugheit diktierte mir das letztere Vorgehen und empfahl mir außerdem, daß ich mich auf eine wortkarge, einsilbige Rede beschränken und so tun sollte, als sei ich verletzt und außer Atem. Ich nahm den Hörer ab, bereit, endlich S' Stimme zu hören und
Weitere Kostenlose Bücher