Amber-Zyklus 10 - Prinz des Chaos: der Titel
seltsame Origami-Figur. Die Halle ist viel größer, als es den Anschein hat. Du kannst sie viele Male durchschreiten, und jedesmal könntest du beschwören, eine andere Anordnung und Gestaltung gesehen zu haben. Ich war mir nie sicher. Nur Sawall kannte sich ganz genau aus.«
»Dann hatte ich also recht. Irgend etwas stimmt nicht damit.«
»Mir gefällt es ganz gut so.«
Ich setzte mich auf einen silbernen Baumstumpf neben einem liegenden Stamm.
»Ich möchte sehen, wie er sich zusammenfaltet«, sagte er schließlich.
»Nur zu.«
Während er davonschwebte, dachte ich an das Gespräch, das ich vor kurzem mit meiner Mutter geführt hatte. Ich wurde an alles erinnert, was Mandor gesagt oder ohne Worte angedeutet hatte, an die Auseinandersetzung zwischen dem Muster und dem Logrus, an meinen Vater als Meister des Musters und eigentlicher (zukünftiger?) König von Amber. Hatte sie davon gewußt, war es ihr als Tatsache und nicht nur als Spekulation bekannt? Ich konnte mir vorstellen, daß das der Fall war, denn sie erfreute sich offenbar einer besonderen Beziehung zum Logrus, und ihm waren die prominenteren Entscheidungen seines Gegners bestimmt bewußt. Sie hatte zugegeben, daß sie den Mann nicht liebte. Anscheinend hatte sie sich ihn aufgrund des wie immer gearteten genetischen Materials ausgesucht, das das Muster so stark beeindruckt hatte. Hatte sie wirklich versucht, einen Verfechter des Logrus heranzuzüchten?
Ich schmunzelte, als ich an das Ergebnis dachte. Sie hatte dafür gesorgt, daß ich eine gute Ausbildung im Gebrauch der Waffen bekam, doch ich reichte bei weitem nicht an die Klasse meines Papas heran. Mich hatte es mehr zur Zauberei hingezogen, doch Zauberer gab es damals in den Burgen wie Sand am Meer. Schließlich hatte sie mich auf die weite Reise zu dem von den Amberiten favorisierten Schatten Erde geschickt, damit ich das College besuchte. Doch der Abschluß in Computerwissenschaft von Berkeley war auch nicht unbedingt die passende Voraussetzung, um das Banner des Chaos gegen die Mächte der Ordnung hochzuhalten. Ich mußte eine große Enttäuschung für sie gewesen sein.
Ich dachte an meine Kindheit zurück, an einige der merkwürdigen Abenteuer, für die dieser Ort als Ausgangspunkt gedient hatte. Gryll und ich pflegten hierherzukommen, wobei Glait sich zwischen unseren Füßen hindurchschlängelte, sich um meine Gliedmaßen legte oder sich irgendwo in meiner Kleidung mittragen ließ. Ich pflegte jenen eigenartigen Klageschrei auszustoßen, den ich im Traum gelernt hatte, und manchmal gesellte sich Kergma zu uns, indem er aus den Falten der Dunkelheit herausglitt, aus dem diffusen Bereich eines verdrehten Raums. Ich war mir nie ganz sicher, was Kergma eigentlich war oder auch nur welchem Geschlecht er angehörte, denn Kergma war ein Gestaltwandler und flog, kroch, hüpfte oder rannte kurz hintereinander in den verschiedensten Formen umher.
Einer Eingebung folgend stieß ich diesen uralten Schrei aus. Natürlich geschah gar nichts, und gleich darauf erkannte ich ihn als das, was er in Wirklichkeit war: der Schrei nach einer vergangenen Kindheit, in der ich mir wenigstens erwünscht vorgekommen war. Jetzt, jetzt war ich gar nichts mehr - weder Amberite noch Chaosite und sicher eine Enttäuschung für meine Verwandten auf beiden Seiten. Ich war ein mißlungenes Experiment. Ich war nie um meiner selbst willen erwünscht gewesen, sondern als etwas, mit dem sich vielleicht etwas erreichen ließe. Plötzlich wurden meine Augen feucht, und ich unterdrückte ein Schluchzen. Ich werde nie erfahren, in welche Gemütsverfassung ich mich letztlich hineinvertieft hätte, denn in diesem Augenblick wurde ich abgelenkt.
Ein rotes Licht strahlte von einem Punkt hoch oben an der Wand zu meiner Linken herab. Es hatte die Form eines kleinen Kreises um die Füße einer menschlichen Gestalt.
»Merlin!« rief eine Stimme aus derselben Richtung, und die Flammen züngelten höher. In ihrem Licht sah ich das vertraute Gesicht, das mich ein wenig an mein eigenes erinnerte, und ich war froh über die Bedeutung, die es soeben meinem Leben gegeben hatte, auch wenn diese Bedeutung der Tod war.
Ich hob die linke Hand über den Kopf und ließ mittels Willenskraft einen blauen Lichtblitz von dem Speichenkranz ausgehen.
»Hierher, Jurt!« rief ich und stand auf. Ich machte mich daran, die Kugel zu bilden, die zu seiner Ablenkung dienen sollte, während ich den Schlag vorbereitete, der ihn durch einen Stromschlag töten
Weitere Kostenlose Bücher