Ambient 03 - Ambient
hinter mir kam, spähte über meine Schulter, keuchte und wich zurück.
»Schamlos«, flüsterte sie, nach Atem ringend. »Verfluchter Mist!«
»Was ist los?«
»Was los ist?« zischte sie. »Sieh hin!«
Ich tat es vorsichtig und erspähte den Sprecher. »Ich dachte mir doch, daß die Stimme vertraut klang«, sagte ich. »Das ist Derek. Er wohnte ein Jahr lang bei uns in der Straße. Kommt hin und wieder in den Club.«
»Du kennst es?«
»Ich kenne ihn, ja.«
Ohne Avalons Hand loszulassen, schlich ich geduckt bis an die Bahnsteigkante und spähte hinüber. Alle Versammelten blickten in die entgegengesetzte Richtung zu Derek, weg von uns; das Licht war überdies nicht so gut, daß wir leicht hätten ausgemacht werden können. Die Station bestand aus einem langen Bahnsteig mit Geleisen zu beiden Seiten; entlang der Bahnsteigkante waren in seiner ganzen Länge Pfosten aufgerichtet worden, die als Fackelhalter dienten. Die Menge war zahlreich; ich erkannte wenige vertraute Gesichter. Derek stand auf der Plattform des Sprechers und predigte.
»… im dritten Buch der Visionen der Joanna finden wir Gleichgesinnte, wie Macaffreys scharfe Zunge verlogene Seelenhändler aufspießt, Speichelklauber kraftlos von gerinnender Galle, Aufleser und Quatschköpfe und betrogene Trottel. Staubflocken von Gedanken wehen ihnen um die störrischen Köpfe. Logik ergraut, welkt und läßt grünen Schimmel sprießen, wo ihre Münder eitle Salbaderei verbreiten …«
Derek war ein Hundsjunge, vom Kopf bis zu den Zehenspitzen bedeckt mit langem, einst blondem, jetzt dunkelbraunem Haar; er trug einen schwarzen Anzug und ein schwarzes Hemd. Wie alle echten Ambienten, war er mehrere Jahre jünger als ich. Als Kinder hatten wir nie viel miteinander gesprochen; schon im frühen Alter zogen Ambienten ihre eigene Gesellschaft vor, und ich bin überzeugt, daß sie meinen Freunden genausoviel Scheu einflößten wie mir – es gehörte zu den Dingen, über die niemand sprechen mochte. Die Plattform, auf der er stand, war ganz niedrig, nicht höher als dreißig Zentimeter; Ambienten legen Wert auf Gleichberechtigung für alle innerhalb ihrer Gruppe. Wie Enid mir erklärt hatte, predigten sie alle abwechselnd einmal im Monat, so daß schließlich alle zu Wort kommen konnten.
»… ihr Herz schlägt Macaffreys, ihre Augen sehen klar, sehen was vorgeht und erfassen, was es gibt. In seiner Verhärtung innerhalb und während ihrer vollkommenen Vereinigung enthält er nada nadie von dem, was Gott verlangt, sondern das, was die Gottheit verurteilt, er läßt Furcht aufkommen und verschließt doch die Ohren, er blickt in die Zeit …«
Ambienten verwendeten in ihren Gottesdiensten Teile der Bibel und ein Buch, das sie die Visionen der Joanna nannten; ich hatte Enids Exemplare des letzteren gelesen, sowohl in seiner Originalform wie auch in der Übersetzung für Ambienten. Ambienten zeigten eine Vorliebe für jene Bibelgestalten, denen in ihren Augen niemals Gerechtigkeit widerfahren war – Kain, Ham, Esau, Judas und nun Jesus –, und entwickelten durch die Botschaften Macaffreys, wie sie von Joanna erzählt wurden, einen höchst bemerkenswerten Standpunkt zum Schöpfer: daß er sich nämlich während des Schöpfungsaktes in zwei Intelligenzen gespalten habe, eine männliche und böse, und eine weibliche und gute. Beide waren wahnsinnig geworden, nachdem ihnen mißlungen war, was sie geschaffen hatten. Was der eine tat, machte die andere unwirksam, und umgekehrt. Wie ich gesagt habe, bin ich nicht für Dogmen irgendwelcher Art, aber diese Vorstellung deckte tatsächlich vieles ab, was fragwürdig war.
»Dies sind die Tage der Veränderung. Die Zeit läuft Amok, und niemand fängt die Schatten ein, die vor ihnen lagern. Nicht mehr. Farbe verblaßt, Leidenschaft flammt auf, irrlichtert in allen Augen. Tanzt leicht über ihre Wände, auf ihren Straßen; verleugnet keine Wahrheit, duldet keine Dummköpfe. Sie hängen an toter Vergangenheit wie Fliegen am Fliegenleim. Ein Jahr ums andere geht darüber hin, und sie plappern weiter und fesseln sich selbst mit ihren eigenen abgestorbenen Gedärmen, behext von der Furcht vor der verlorenen Zeit. Wir ergreifen die Schwingen der Zeit, lassen uns zu unserem eigenen Flug emportragen. Was getan ist, ist getan; was war, war. Was ist, ist, wird sein, kann sein, mag sein, muß sein. Erinnerung spielt. Verheißung gibt.«
Zusammen, wurde die Vereinigung Gottheit genannt– denn Joanna meinte, daß die bessere der
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