Ambient 04 - Terraplane
erschrockene Gesichter, die zu den Fenstern herausspähten.
»Was fällt Ihnen ein?« fragte Wanda, packte mich kraftvoll am Arm und zog mich nach rückwärts. »Los, kommen Sie! Zum Gepäckwagen.«
»Da gibt es genug freie Sitze …«
»Es ist das Gesetz«, sagte sie, als wir uns hineindrängten. Die hinteren Wagons waren voller Menschen; wir drängten und stießen uns durch die Stehenden, fanden Stehplätze, wo wir die Zehen ausstrecken konnten. Die dschungelfeuchte Luft war schwer vom Geruch Hunderter ungewaschener Gestalten; kleine Ventilatoren, die über uns an der Decke befestigt waren, standen hinter ihren Schutzgittern still. Nichts als schwarze Gesichter glänzten um uns, alle durchnäßt vom feuchten Schwamm der Mittagsstunde. Der Zug setzte sich in Bewegung, die Stehenden schwankten; keiner hatte Platz genug, um zu fallen.
»Warum sind die vorderen Waggons nicht benutzbar?« fragte ich; mein Gesicht stieß beinahe in ihres.
»Sie sind es nicht«, sagte sie. Sie hielt sich mit einer Hand an einer schlingenartigen Lederschlaufe, die von der Decke hing. »In Ihrer Zeit müssen die Verhältnisse sich sehr verändert haben, Mr. Generalmajor.«
»Sehr verändert, ja«, sagte ich.
»Wenn Sie den Leuten hier erzählen, wie es ist, werden sie Ihnen den Kopf abreißen«, sagte sie. Ich hatte keine Ahnung, ob sie recht hatte, sagte aber lieber nichts. Durch eine Wirrnis von Armen blickte ich zum Fenster und gewann flüchtige Blicke hinab in Querstraßen, über Harlems Dächer und Türme. In Höhe der Hundertzehnten legte sich der Zug wie eine Achterbahn in die Kurve und fuhr in sieben Stockwerken Höhe westwärts. Über dem junigrünen Central Park zeigte sich das Stadtzentrum bei Tageslicht, sechs Kilometer entfernt, die Pastellfarben der Türme grau und verschwommen in der schimmernden Luft. Obwohl sie voll von Ruß und Gift gewesen sein mußte, gab es ungleich mehr zu sehen als in meiner Zeit, und der ganze Himmel schien wie neu gemacht, noch funkelnd vom Staub der Schöpfung.
»Sechsundneunzigste!« Bei jeder Haltestelle rief der Zugführer die Stationsnamen aus. »Sechsundneunzigste und Columbus Avenue. Vorsicht beim Aussteigen!«
Ich warf unauffällig einen Blick auf die Mattscheibe des Aufspürers. »Wer ihn in die Stadt gebracht hat, ist jetzt stationär«, sagte ich.
»Wo ist er dann?« fragte sie. Sie fächelte sich mit ihrer Zeitung Luft zu, während die Menge sich verlief. Als der Zug wieder anfuhr, war der Waggon beinahe leer; wir ließen uns auf die Sitze aus gefirnistem Rattan nieder. Ich drückte die passenden Knöpfe und blies das Koordinatennetz auf.
»Centre Street nördlich von Canal«, sagte ich. »Nicht weit von der Grand Central. Chinesenviertel.«
»Das ist nicht im Chinesenviertel«, sagte sie. »Das ist Klein-Italien. Und dorthin müssen wir?«
»Es sei denn, neue Bewegung zeigt sich«, sagte ich. »Ist es von hier erreichbar?«
»Wir können in der ersten Station über Canal aussteigen und hinübergehen«, sagte sie. »Ich habe den Namen vergessen, aber er fällt mir wieder ein, wenn ich ihn höre. Sehen Sie nur zu, daß wir nicht länger dort unten sein müssen als unbedingt nötig.«
Wir ratterten die Columbus Avenue hinunter, bis sie zur Ninth Avenue wurde, dann zur Hudson Street. Mietshäuser wurden Hochhäuser, wurden Türme, wurden wieder zu Mietshäusern, ein Auf und Nieder, wo es in meiner Zeit nichts als verglaste Hochhäuser und Appartements mit kleinen Balkonen gab. Als ich eingezwängt zwischen Wanda und einem schlafenden Mann saß, dem Zeitungspapier zwischen Schuh und Sohle hervorschaute, wurde ich plötzlich melancholisch, voll Bitterkeit über meine Isolation; niemals hatte ich mich so untröstlich allein gefühlt. Ich hatte den Verlust der Eltern erlitten, hatte gesehen, wie Kampfgefährten mitten im Gespräch verflüssigt worden waren, hatte den Hauch der Einsamkeit kühl im Nacken gespürt, wenn ich in fremden Ländern allein zu erkunden hatte; hatte immer wieder an der unvernarbten Wunde gekratzt, die zurückgeblieben war, als meine Frau eines Spätnachmittags ohne Warnung oder einleuchtenden Grund verschwunden war. Nur dies hatte ebenso geschmerzt, doch hier, umgeben von Fremden, deren Denken und Handeln sich niemals eindeutig erkennen ließ, in einer Stadt, die durch ihre unbestimmten Ähnlichkeiten desorientierend war, in einer Welt, deren Seele mir fremd war, verschlimmerte sich das Schlimme. Nicht einmal Alice konnte hier trösten.
Nicht weit
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