Ambler by Ambler
Schuluniform bestand lediglich aus einer einfachen schwarzen Mütze mit einer silbernen oder versilberten Anstecknadel. Eine große Hinweistafel draußen verkündete, daß die Schule 1652 von Abraham Colfe und der Worshipful Company of Leathersellers »für die Söhne von Gentlemen« gegründet worden war.
Etwa um dieselbe Zeit, als ich im September bei Colfe’s anfing, wurde Onkel Frank eingezogen. Er ging höchst widerwillig und machte kein Geheimnis aus seiner Hoffnung, irgendwo weitab von der Front ein ruhiges Leben führen zu können. Sein Bruder Sidney, der eben erst sein Offizierspatent bekommen hatte und zum Kriegsschauplatz in Mesopotamien entsandt werden sollte, reagierte empört auf derart unsoldatisches Gerede. Weihnachten stand vor der Tür, und wir waren nach Tottenham rausgefahren, um Großmutter Andrews zu besuchen, und so wurde ich Zeuge der Auseinandersetzung.
Frank war auf 48 -Stunden-Urlaub da und sollte sich bei einem Truppentransport in Richtung Frankreich wieder melden. Er hatte die Nacht zuvor in dem normalerweise unbenutzten Wohnzimmer geschlafen, und sein gesamtes feldmarschmäßiges Gepäck hatte er bei sich. Onkel Sidney brach die Diskussion über Rechte und Pflichten freier Menschen ab und nahm Onkel Franks Gewehr in die Hand, als wollte er das Schloß prüfen. Dann stieß er den rechten Arm ganz plötzlich vor und warf es mit voller Wucht mitten durch das Zimmer gegen den Körper seines Bruders. Wie ich später erfuhr, war das ein alter Barrastrick, eine Methode, die Reflexe eines Rekruten zu prüfen oder deutlich zu machen, wer befehlen darf und wer zu parieren hat. Und während er das Gewehr warf, gab er einen Befehl. »Benimm dich wie ein Mann!« rief er.
Onkel Frank hatte das Gewehr zwar aufgefangen, aber nur gerade so, und ich glaube, er brach sich dabei einen Fingernagel. Er leckte die Lippen. Dann wurde er bleich vor Zorn und sah einen Moment so aus, als wollte er Onkel Sidney verprügeln. Meine Mutter war oben bei Großmutter Andrews. Man überließ es Großvater, ein Machtwort zu sprechen und so den Tag zu retten. »O je«, kicherte er, »o je, o je. Ihr verrückten Teufel!« Zu ihrer eigenen Überraschung stellten seine Söhne fest, daß sie ihn anlächelten.
Im März 1918 , als die Deutschen ihre letzte Großoffensive an der Westfront begannen, kämpfte Onkel Frank in den Schützengräben bei St. Quentin. Mit dem Rest seiner Einheit wurde er gefangengenommen.
Wir hatten andere Verluste. Nachdem mein Bruder Maurice sich vom Scharlach erholt hatte, bekam er Lungenentzündung. Dann wurde er auf dem Schulweg von einer Kutsche angefahren und vom Pferd in den Kopf getreten. Sechs Wochen nach diesem Unfall stürzte er vom Fahrrad und mußte abermals ins Krankenhaus. Anschließend hatte er Grippe. Es blieb eine hartnäckige Chorea, auch Veitstanz genannt. »Er muß sich mal erholen«, sagte der Arzt, »müssen wir ja alle.«
In jenem Sommer, dem letzten Kriegssommer, mieteten mein Vater und Harry Roberts, unser alter Nachbar in Charlton, gemeinsam einen Bungalow auf Canvey Island in der Themsemündung. Beide Familien verbrachten die Schulferien dort, und die beiden Familienväter kamen zu uns heraus, wann immer sie konnten.
1918 war Canvey vom Festland durch einen Kanal getrennt, der bei Flut nur mit Hilfe einer Fähre überquert werden konnte. Man erreichte die Insel, indem man von London mit dem Zug nach Benfleet fuhr und es möglichst so einrichtete, daß man bei Ebbe ankam. Am Bahnhof stieg man in einen Einspänner, der mit extra großen Rädern versehen war, damit das Gepäck und die Füße der Reisenden nicht naß wurden, falls sich in irgendwelchen Fahrrinnen noch Meerwasser gehalten hatte. Die Insel war umgeben von flachen Sanddünen, die in sumpfiges Uferland übergingen, und kreuz und quer durchzogen von langen, schilfbestandenen Gräben, die das Weideland entwässerten, auf dem Kühe und Schafe grasten. Die Ferienhäuser standen in unregelmäßigen Abständen auf dem der Mündung zugewandten Teil der Dünen und des Uferlands, auf dem Strandhafer wuchs, und die meisten waren nach derselben Methode gebaut: Zwei alte Eisenbahnwaggons ohne Fahrgestell hatte man nebeneinander hingestellt, und der Zwischenraum wurde mit Wellblech überdacht. Die alten Abteile hatte man in Schlafzimmer, Küche und Wohnzimmer verwandelt. Frisches Wasser wurde per Hand an einem Brunnen gepumpt, gekocht wurde auf einem Paraffinherd, und als Toilette diente ein abseits gelegenes
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