Ambler by Ambler
Plumpsklo.
Das Leben auf Canvey war billig. Milch und Gemüse bezog man vom nächsten Bauern. Für einen Shilling die Woche konnte man ein richtiges großes Krabbennetz ausleihen, und im Wattenmeer gab es eimerweise prächtige, große Krabben. An den langen Wellenbrechern klebten mehr Muscheln und Meeresschnecken, als die örtlichen Fischer, die davon lebten, fangen konnten. In den frühen Morgenstunden gab es auf den Feldern immer frische Pilze. Damals konnte man auf Canvey von einem Ende der Insel bis zum anderen gehen, wenn man die Fußpfade entlang den Gräben und die Holzstege benutzte. An der östlichen Landzunge lag das Wrack eines großen holländischen Schleppkahns. Obwohl das meiste davon tief im Schlamm steckte, war das Achterschiff bei Ebbe noch zugänglich. In diesem Sommer erklärten mein Bruder und ich das Wrack zu unserem Besitz. Der einzige Hinweis auf den Krieg in Frankreich war der Geschützdonner, der von dem Artilleriegefechtsstand an der Themsemündung bei Shoeburyness immer wieder herüberkam.
Ein Problem allerdings war Roberts Sohn Brian. Er war etwa so alt und so groß wie ich, in mancherlei Hinsicht aber zurückgeblieben. Ich hatte Gespräche mitbekommen, in denen das Wort »Gehirnfieber« gefallen war. Meine Mutter hatte uns darauf aufmerksam gemacht, daß er ein »überempfindliches Kind« und »etwas babyhaft« sei. Sie hatte nicht übertrieben. Wenn er sich verletzte, schrie er wie am Spieß. Wenn er sah, daß einer von uns etwas Unerlaubtes tat, rannte er sofort los und petzte. Als ich ihn eine Flennsuse nannte, erwiderte er, er würde es seinem Vater sagen, und dann würde es was setzen. Er machte noch ins Bett. Eine seiner unmöglichsten Angewohnheiten war, wann immer er etwas zu essen oder zu trinken haben oder beachtet werden wollte, seinen Wunsch mit einem weinerlichen, schrillen »Ich kein … nicht!« vorzubringen und darauf zu warten, daß irgendjemand ihm das Gewünschte brachte. Wurde nicht prompt genug reagiert, wiederholte er seinen Wunsch, wobei seine Stimme immer höher und sein Gequengel immer penetranter wurde. In seinem Gejammere lag eine unmißverständliche Drohung, und jedesmal hatte er Erfolg. Als ich meine Mutter einmal nach dem Grund dafür fragte, zog sie bloß die Schultern hoch. »Der kleine Teufel ist natürlich Einzelkind, und er ist verzogen, weil er zurückgeblieben und kränklich ist. Sein Vater verhätschelt ihn. Ich selbst würde mich auf diese Fisimatenten nicht einlassen, aber das wird von mir ja auch nicht erwartet. Es sind schließlich auch unsere Ferien und nicht nur ihre. Tu einfach so, als gäbe es ihn nicht.«
Dieser Ratschlag war indes nicht leicht zu befolgen. Brian existierte wirklich und machte viel zu viel Krach, als daß man ihn hätte ignorieren können. Da ich aber inzwischen drei aufregende Semester an der höheren Schule hinter mir hatte und die etwas eigenwilligen Disziplinarmethoden von F. L. Lucas, unserem geliebten, Generationen von Colfeanern nur als »Der Vogel« bekannten Schuldirektor kennengelernt hatte, glaubte ich zu wissen, wie man Brian behandeln müßte. Ich würde ihn erziehen. Ich würde ihm eine Kostprobe des »Vogels« verabreichen.
An jenem Tag gab es zum Abendessen Schnecken. Genau in dem Moment, als wir Kinder uns an den Tisch setzten, meldete sich Brian zu Wort. »Ich keine Schneckengabel nicht«, krähte er.
Auf dem Tisch war ein Teller mit Gabeln. Ich reichte ihn sofort meinem Bruder, nahm selbst eine Gabel und eine Handvoll Schnecken und wandte mich dann an Brian, in meinem Tonfall den »Vogel« parodierend.
»Eine Gabel sollen Sie bekommen, mein Herr. Doch ohne Schweiß kein Preis. Antworten Sie ehrlich. Ist ›Ich keine Schneckengabel nicht‹ ein grammatikalisch korrekter Satz?
Falls ja, würden Sie ihn freundlicherweise für uns analysieren und definieren?«
Brian stieß ein doppelt so lautes Geheul aus.
»Kommen Sie schon!« fuhr ich munter fort. »Sie wissen es bestimmt, aber wir müssen es natürlich nachprüfen. Vertrauen und Kontrolle. Subjekt, Prädikat, Objekt. Na los, machen Sie schon, definieren Sie! Und würden Sie uns freundlicherweise auch den Gebrauch der doppelten Verneinung erklären. Andernfalls müßte ich Sie um Ihr Ehrenwort bitten, eine Woche lang keine Margarine aufs Brot zu schmieren.«
Brians Gejammere verwandelte sich in eine Art gedämpftes Quieken.
»Ein armseliger Geist, ein armseliger Geist!« sagte ich vorwurfsvoll und fügte dann noch die Lucassche Parole hinzu: »An
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