Ambler by Ambler
seinem Schnauzbart kaute und die Hälfte der Wörter verschluckte, so daß er schwer zu verstehen war. Bei der Morgenandacht spielte er Klavier, wobei er oft die Melodie von »Deutschland, Deutschland über alles« herunterhämmerte, um uns die Möglichkeit zu geben, durch das Unterlegen von patriotischen englischen Wörtern unseren Beitrag zum Sieg zu leisten. Sein Hauptfach war Physik, das er mit jener grenzenlosen Zerstreutheit unterrichtete, die von Schülern zur gegenseitigen Erheiterung gerne nachgeahmt wird. Seine Erklärungen der Gesetze von Wärme, Licht und Schall, die er während des Experimentierens von sich gab, waren fast total unverständlich. Das spielte aber keine Rolle, da wir im Lehrbuch nachschlagen und mühelos herausfinden konnten, was er uns hatte demonstrieren wollen. Später, als Elektrizität und Magnetismus durchgenommen wurden, kam es noch viel besser. Wie er vor sich hinmurmelnd das Ohmsche Gesetz beschrieb, während er mit blitzartiger Geschwindigkeit auf die Tafel schrieb, und seine Demonstration, wie mittels einer Wheatstoneschen Brücke elektrischer Widerstand gemessen wird, waren Kabinettstückchen von Unsinn und hochgradiger Verwirrung. Ich glaube nicht, daß er sehr beliebt war. Jungen haben nichts gegen Exzentriker, doch unfreiwillige Witzfiguren sind nicht beliebt. Der Romancier Henry Williamson, der 1911 von Colfe abging, hat in Dandelion Days ein treffendes Porträt von Taffy Simons gezeichnet und auch andere Lehrer durch den Kakao gezogen. Ich ging noch zur Schule, als das Buch erschien. Von dem Roman hieß es damals aber nur, daß ein ehemaliger Schüler etwas Verwerfliches getan habe. Man sagte uns nicht, was er getan hatte, und ermunterte uns auch nicht, weitere Fragen zu stellen. Die Polizei wurde anscheinend nicht eingeschaltet, und so verloren wir das Interesse.
Der Unterricht am Colfe war zumeist gut, sogar in den Kriegsjahren, als das Lehrerkollegium, einschließlich Direktor, nur aus sechs Personen bestand. Von F. W. Lucas, R. W. Creech und F. E. Bennett lernte ich nicht nur die englische Grammatik zu würdigen, sondern auch die Schönheiten der Algebra, Geometrie, der französischen Grammatik und des Latein. Anfangs gab es noch keinen Sport. Es gab keinen Sportlehrer. Ich wollte Geometer werden oder vielleicht Altphilologe. Die Welt war in Ordnung. Arbeitet, denn die Nacht bricht herein.
Natürlich wurde alles ganz anders. Als der Krieg zu Ende ging und die jungen Lehrer zurückkehrten, mußten wir aufwachen, die Ärmel hochkrempeln, in die Hände spucken und uns an die Arbeit machen. Nicht alle Heimkehrer waren in bester gesundheitlicher oder seelischer Verfassung. Wenn der Mann, der nunmehr Französisch gab, seine Malariaanfälle bekam, lief er gelb an und zitterte am ganzen Leib. Es gab auch einen Mathelehrer, der regelmäßig Schüttelfrost hatte, aber nicht gelb, sondern nur käsigweiß wurde. Wir diagnostizierten Schützengrabenneurose und empfanden etwas mehr Mitleid mit ihm, vielleicht weil er bloß mit sich selbst ungeduldig war. Er zeigte uns, was man mit quadratischen Gleichungen machte, und erklärte uns, welche Art von Problemen man damit lösen könne. Dann, eines Tages, stellte er uns eine Zeitaufgabe, die einfach und lösbar schien, bis wir bei näherem Hinsehen feststellten, daß unsere Algebra nicht ausreichte. Er freute sich. Er sagte, wenn wir uns anstrengten, wollte er uns in die Mysterien der höheren Mathematik einführen. Aus seinem Munde klang das so aufregend wie die Landkarte in Billy Bones’ Schiffskoffer. Leider konnte er nicht bleiben, sein Versprechen einzulösen.
Was ich von Schützengrabenneurose und Schüttelfrost und dergleichen wußte oder ahnte, stammte zumeist von Onkel Frank, aus seinen Erzählungen natürlich, aber auch aus seinen Alpträumen. Nach Kriegsende war er mit anderen Gefangenen repatriiert und schließlich nach Tottenham gebracht worden. Seine Ankunft fiel mit dem Höhepunkt der großen Grippeepidemie zusammen, der seine Mutter gerade erlegen war. Die Tanten Andrews kümmerten sich um Großvater. Also wurde Frank bei uns untergebracht.
Er war dünn gewesen, als er in den Krieg gezogen war. Als er zurückkam, war er nur noch ein Skelett. Er war in einem Kriegsgefangenenlager bei Gießen gewesen und hatte in einem Bergwerk arbeiten müssen. Den Gefangenen war es ernährungsmäßig nicht schlechter gegangen als der deutschen Zivilbevölkerung. Und nach den ersten Rotkreuzpaketen standen die Gefangenen sogar
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