Ambler by Ambler
dichtzumachen, selbst bei schlechtestem Wetter nicht.
Ich hatte beschlossen, mir etwas in den Alpes Maritimes zu suchen. Ich blieb eine Nacht in Nizza und nahm dann den Autobus, der in die Berge Richtung Sospel fuhr. In Peïra-Cava, knapp unterhalb der Schneegrenze, stieg ich aus. Hier und da lag Schneematsch, und an den Berghängen standen regenschwere Tannen, die in den Nebelschwaden zu schwimmen schienen. Selbst der Autobus hatte anscheinend keine Lust, dort anzuhalten. Ich blieb drei Monate.
Mein Zimmer war kalt und wurde, da die Heizung nachließ, zusehends kälter. Ich beschloß daher, im Eßzimmer zu arbeiten, was die Familie nicht störte, da ich der einzige Gast war. Als nach einer kleinen Explosion die Heizung endgültig ihren Geist aufgab, wurden an alle Hausbewohner – der Kellner, zwei Zimmermädchen, die Familie und ich – heiße Ziegelsteine verteilt, an denen man sich aufwärmen konnte.
Die Ziegelsteine wurden auf dem Küchenherd erhitzt und anschließend in dicke Schichten Zeitungspapier eingewickelt. Ich bat um zwei Ziegelsteine, die ich auch bekam. Im Eßzimmer, in dem ich den letzten Teil von Anlaß zur Unruhe schrieb, herrschte Eiseskälte. Den einen Ziegelstein balancierte ich auf meinen Knien, den anderen nahm ich für die Füße.
Die Familie (von den Kindern war nur die Tochter zu Hause, der Sohn war beim Militär) hatte nichts dagegen, daß ich mich nützlich machte. Als ein vierter Mann zum Skat gebraucht wurde, brachten sie mir an den Abenden das Spiel und die französischen Kartennamen bei. Das bedeutete auch, da sie im Wohnzimmer einen funktionierenden Kamin hatten, daß sie mich nicht mit heißen Ziegelsteinen versorgen mußten. Der Heizungskessel würde erst im Sommer repariert werden können. Abends, wenn es nicht zu kalt war, kamen Nachbarn manchmal auf einen Kräutertee und ein Schwätzchen herein. Der einzige Besuch, der Erfrischungen immer ablehnte, war eine Frau mittleren Alters, die jedesmal intensiv nach Krankenhaus roch. Oft wurde sie von einem uniformierten Chauffeur eskortiert. Zuerst dachte ich, sie sei die Wirtschafterin eines Krankenhauses der Gegend. Diese Vermutung wurde von der Familie aber mit brüllendem Gelächter quittiert. Ich erfuhr, daß die Dame, die zur Familie des berühmten, reichen Waffenfabrikanten Schneider-Creusot gehörte, dem Äther verfallen sei. Sie würde das Zeug trinken.
Das konnte ich nicht recht verstehen. Meine erste Begegnung mit Äther hatte ich im Alter von zwölf Jahren gehabt, als ich anläßlich einer Mandeloperation damit betäubt worden war. Reichliches Erbrechen war die Folge gewesen. Im Bart’s Hospital hatte ich es wieder verabreicht bekommen, diesmal wohl in Verbindung mit Chloroform. Noch mehr, und sehr schmerzhaftes Erbrechen. Und doch wurde das Zeugs, wie ich hörte, von dieser Madame Schneider getrunken. Es hieß, ihr Chauffeur müsse in regelmäßigen Abständen nach Nizza hinunterfahren und in ihrer Stammapotheke Nachschub besorgen. Er kaufe immer fünfhundert Gramm aufs Mal. Gramm? Jawohl, fünfhundert Gramm. Der Wirt erklärte mir zutraulich und mit einer Spur von Wehmut, daß Äther, sofern einem der Geruch und Geschmack nichts ausmache, das einzige berauschende Getränk sei, mit dem man sich sinnlos betrinken könne und trotzdem am nächsten Morgen ohne Kater aufwache.
Ich mochte nicht glauben, daß in Frankreich, dem Land der Vernunft und des metrischen Systems, eine Flüssigkeit nach Gewicht und nicht nach Volumen verkauft würde, doch der patron zuckte bloß mit den Schultern, als ich ihn darauf ansprach. Der Chauffeur sage, er kaufe den Äther nach Gewicht. Vielleicht sei er ein ungebildeter Mensch, der es nicht besser wisse. Was mache das schon aus! Wenn ich das Zeug mal selbst probieren wollte, könnte ich es wahrscheinlich deziliterweise kaufen. Am Ende würde ich genauso riechen wie Madame Schneider. Und ich könnte froh sein, wenn ich auch so reich wäre.
Da er langsam nervös wurde, wechselte ich das Thema. Er war eine Informationsquelle, die ich nicht verlieren wollte. Ein wenig verspätet war noch etwas Schnee gefallen, und für ein paar Tage waren Skifahrer aufgetaucht. Zu denen, die in der Pension abgestiegen waren und nun mit uns bibberten, gehörte auch eine türkische Familie. Sie war aus Nizza, wo es meinem Freund, dem patron , zufolge eine ansehnliche Türkenkolonie gab. Er habe türkische Gäste, die alljährlich kämen. Er wisse eine Menge über sie. Ganz allmählich gelang es mir, noch mehr
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