Ambler-Warnung
und starben beinahe gleichzeitig.«
Sie kniff die Augen fest zusammen und drängte die Tränen zurück. »Vielleicht hat mich das verändert. Vielleicht auch nicht. Aber es wurde ein Teil von mir, verstehst du? Ein Tropfen Dioxin im Wasserreservoir.«
Die Zeit hatte dafür gesorgt, dass die Wunde verheilt und schließlich vernarbt war. Aber Ambler wusste, dass solche Narben immer wieder schmerzten. Er wusste auch, warum es ihr wichtig gewesen war, ihm davon zu erzählen. Warum sie wollte, dass er sie kennenlernte. Erfuhr, warum sie zu dem
Menschen geworden war, der neben ihm lag. Sie wollte ihre Identität mit ihm teilen. Eine Identität, die aus Hunderttausenden Mosaiksteinchen, aus hunderttausend Zufällen und Erinnerungen zusammengestückelt war, die zusammen doch eine einzigartige, nicht hinterfragbare Einheit bildeten. Eine Identität, die ihr gehörte, die sie selbst war.
Ambler spürte ein brennendes Gefühl, das ihm die Kehle zuschnürte. Erst nach einer Weile begriff er, dass Neid in ihm aufstieg.
Peking
War es möglich, in Sicherheit zu leben, ohne dabei in Isolation zu geraten? Beinahe ein Koan, dachte Präsident Liu Ang. Sicher, auch Zhongnanhai, die Stadt inmitten der Stadt, erschien ihm oft isoliert. Manchmal fragte sich der Präsident, ob er nicht wie der Kaiser Guangxu in einem luxuriösen Gefängnis lebte, einem goldenen oder wenigstens lackierten Käfig. Aber auf Sicherheitsvorkehrungen ganz zu verzichten, wäre egoistisch gewesen. Es ging um viel mehr als um sein persönliches Wohlbefinden. Aber aus dem gleichen Grund würde er auch niemals die Beschränkungen akzeptieren, die ihm seine besorgten Vertrauten auferlegen wollten. Er würde seine Staatsbesuche im Ausland niemals absagen, besonders nicht seine Rede beim bevorstehenden Weltwirtschaftsgipfel in Davos. Wenn er auf den Rat der Feigheit hörte, dann würde er den Elan verlieren, den seine Reformen brauchten, um zu gelingen.
Liu Angs Blick wanderte zum Fenster. Im Winter wirkten Nord-See und Süd-See so trübe und glanzlos wie die Augen eines erschlagenen Riesen. Der Gedanke ließ ihn erschauern.
Auch Gewohnheit konnte den Schatten der düsteren Geschichte, der auf dem Gelände lag, nicht vertreiben.
Aber seine politische Agenda – sein Vermächtnis – musste das Wichtigste bleiben. Nicht sein Leben. Es wäre reiner Wahnsinn, diese Agenda auf dem Altar persönlicher Sicherheit zu opfern. Wenn sein Tod dazu beitragen konnte, die neue Ära der Freiheit und Demokratie einzuläuten, die er sich so sehnlich wünschte, dann hoffte er, dass er den Mut dazu aufbringen würde, diesen Tod anzunehmen. Aber im Moment sah es eher so aus, als würde diese Ära durch sein Weiterleben eingeläutet werden. Er hoffte, dass diese Annahme nicht nur seiner Eitelkeit entsprang. Aber es gab ja noch den jiaohua de nongmin. Beim geringsten Anzeichen von Eitelkeit würde der ihm gehörig den Kopf waschen. Alle fürchteten die scharfe Zunge des gerissenen Bauern, und manche munkelten, sie sei deshalb so scharf, weil er sich jahrzehntelang auf die Zunge gebissen habe. Der jiaohua de nongmin hingegen fürchtete niemanden mehr.
Der jugendliche Präsident blickte in die vertrauten Gesichter seiner Gefolgsleute und Berater, die sich um den schwarzen Lacktisch versammelt hatten. Vertraute Gesichter mit vertrauten Sorgenfalten.
Chao Tang von der zweiten Abteilung des Ministeriums für Staatssicherheit wirkte heute Morgen besonders betrübt.
»Wir haben neue Informationen erhalten«, sagte er gerade.
»Wahre oder einfach nur neue?«, fragte Liu Ang leichthin.
»Leider beides.« Genosse Chao war nicht nach Scherzen zumute, aber das war nichts Außergewöhnliches. Aus einer dünnen Ledermappe zog er einige Fotografien, die er zuerst Liu Ang zeigte und dann den anderen vorlegte.
»Hier sehen Sie den Mann, der Tarquin genannt wird«, sagte Genosse Chao. »Das Bild wurde vor wenigen Tagen in Kanada beim G7-Gipfel aufgenommen. Beachten Sie die Uhrzeit auf dem Foto. Nur wenige Minuten zuvor wurde Kurt Sollinger, ein Mitglied der EU-Delegation, durch einen Anschlag getötet. Wirtschaftlich gesehen, war er ein guter Freund Chinas. Er arbeitete intensiv an einem Wirtschaftsabkommen, das den Handel zwischen China und der EU sehr erleichtern sollte.«
Der Mann mit der leisen Stimme links neben Liu Ang, sein Sicherheitsberater, schüttelte düster den Kopf. »Wenn der Waldkauz die Hühner tötet, muss der gute Bauer den Waldkauz erlegen.«
»Ich dachte,
Weitere Kostenlose Bücher