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Ambler-Warnung

Ambler-Warnung

Titel: Ambler-Warnung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: R Ludlum
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keine Spur von Schauspielerei oder Zynismus, kein Zeichen dafür, dass der Politiker sich eines Betrugs bewusst war. Der Mann auf dem Podium freute sich an seiner eigenen Wortgewandtheit, aber er glaubte wirklich, was er sagte, und hielt es für wichtig und zukunftsweisend.
    Du hast etwas durchschaut, was du nicht hättest durchschauen dürfen.
    »Man nennt Taiwan den kleinen Tiger«, sagte Wai-Chan Leung mit beinahe ehrfürchtiger Stimme. »Was mir Sorgen macht, ist nicht unser Mangel an Größe. Mir macht Sorgen, dass Tiger vom Aussterben bedroht sind.« Er legte eine erneute Pause ein. »Selbstgenügsamkeit ist ein hehres Ideal. Aber ist es auch ein realistisches Ziel? Wir brauchen beides: sowohl Ideale als auch Realismus. Manche Leute behaupten, dass man zwischen beiden wählen müsse. Die gleichen Leute erzählen euch auch, dass ihr gern eine Demokratie haben könnt, solange sie euch vorschreiben dürfen, was ihr zu tun habt. Wisst ihr, woran mich das erinnert? An den Mann, der vor langer Zeit in einem Dorf ein Geschäft eröffnete. Dort verkaufte er einen Speer, von dem er behauptete, nichts könne ihn aufhalten. Gleichzeitig verkaufte er einen Schild, von dem er behauptete, nichts könne ihn durchdringen.«
    Lachen und Applaus brandeten auf.
    »Die Menschen von Taiwan – nein, alle Menschen Chinas - haben eine wunderbare Zukunft vor sich. Sie müssen sich nur dafür entscheiden. Wir müssen unser Schicksal selbst in die Hand nehmen. Also lasst uns eine wohlüberlegte Entscheidung treffen. Das Festland verändert sich. Sollen nur wir
allein auf der Stelle treten?« Er war nur noch rund einen halben Meter von dem dunkel gebeizten Rednerpult entfernt. Nur ein halber Meter trennte ihn noch von seinem Tod. Tarquins Herz raste. Jeder Nerv seines Körpers schrie ihm zu, dass er im Begriff war, einen Fehler zu machen. Es war ein Fehler gewesen, diesen Plan auszuhecken. Ein Fehler, ihn auszuführen. Sie hatten das falsche Opfer gewählt. Wai-Chan Leung war nicht ihr Feind.
    Der Kandidat streckte die Unterarme nach vorne, die Hände zu Fäusten geballt. Er führte die Fäuste zusammen und presste die Knöchel aufeinander. »Druck erzeugt Gegendruck, versteht ihr? Sture Opposition – so wie hier – führt nur zum Stillstand. Sie lähmt. Soll so unsere Beziehung zu unseren Vettern auf der anderen Seite der Meerenge aussehen?« Nun verschränkte er die Finger beider Hände und verdeutlichte, wie man sich seine Vision von politischer Souveränität vorzustellen hatte, die mit regionaler Integration gekoppelt werden konnte. »Wenn wir kooperieren – ja, zusammenhalten  –, dann finden wir unsere eigene Stärke. Nur in der Integration liegt unsere eigene Integrität.«
    Tarquins Ohrhörer knisterte. »Ich sehe nicht so gut wie du, aber ich glaube, das Ziel ist in Position? Ich warte auf dein Signal.«
    Tarquin schwieg. Es war Zeit, die Bombe zu zünden und die Laufbahn des jungen Mannes zu beenden – aber alle seine Instinkte wehrten sich dagegen. Alle seine Sinne waren hellwach, während er inmitten einer Menge aus mehreren tausend taiwanesischen Bürgern stand, die überwiegend Polohemden oder Freizeithemden mit einem weißen T-Shirt darunter trugen. Die neue Nationaltracht. Er suchte nach dem kleinsten Anzeichen dafür, dass das Dossier den Mann korrekt beschrieben hatte. Aber er fand ... nichts.

    Erneut knisterte es in seinem Ohr: »Tarquin, bist du eingeschlafen? Die Pause ist vorbei. Ich drücke jetzt ...«
    »Nein«, flüsterte Tarquin in das Mikrofon, das in seinen Hemdkragen eingenäht war. »Tu es nicht.«
    Aber der Sprengstoffexperte war ungeduldig und ärgerlich und ließ sich nicht aufhalten. Als er antwortete, hörte Tarquin nur den bitteren Zynismus eines Mannes, der ein paar Einsätze zu viel auf dem Buckel hatte:
    »One for the money, two for the show, three to get ready, now go, cat, go ...«
    Die Explosion war viel leiser, als Tarquin erwartet hatte. Sie klang wie eine Papiertüte, die ein Kind aufgeblasen hatte und jetzt begeistert platzen ließ. Das Innere des Rednerpults war mit Stahlplatten verstärkt worden, um Kollateralschäden zu minimieren. Die Auskleidung dämpfte den Knall und lenkte gleichzeitig die volle Wucht der Explosion auf die Gestalt hinter dem Pult.
    Wie in Zeitlupe sah Tarquin zu, wie Wai-Chan Leung, die große Hoffnung so vieler Taiwanesen – reformbereiter Stadtbewohner und Bauern, Studenten und Unternehmer – abrupt erstarrte und dann nach vorne auf die Bühne

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