Ambler-Warnung
sackte, umrahmt von den Blutspritzern aus seinen zerfetzten Eingeweiden. Die geschwärzten Überbleibsel des Pults bildeten einen Haufen zu seiner Linken, aus dem eine kleine Rauchsäule emporstieg.
Einen Moment lang lag der tödlich verletzte Mann bewegungslos da. Dann sah Tarquin, dass er den Kopf vom Boden hob und auf die Zuschauermenge vor ihm blickte. Was als Nächstes passierte, lähmte Tarquin und veränderte ihn für immer. Die Augen des sterbenden Mannes, der die letzten Sekunden seines qualvollen Todeskampfes durchlebte, blieben an Tarquin hängen.
Es war ein schwülheißer Tag im subtropischen Taiwan, aber Tarquin lief ein eiskalter Schauer über den Rücken. Irgendwie wusste er, dass jedes Detail dieses Augenblicks sich für alle Zeiten unauslöschlich in sein Gedächtnis und seine Träume eingraben würde.
Er war nach Changhua gekommen, um einen Mann zu töten, und dieser Mann lag vor ihm im Sterben. Und durch die Intensität seines Blickes, der eine seltsame Intimität erzeugte, teilte dieser Mann nun die letzten Sekunden seines Lebens mit Tarquin.
Sogar jetzt zeigte sich weder Hass noch Wut auf den Zügen des Sterbenden. Tarquin sah nur Verwirrung darin und Trauer. Es war das Gesicht eines Mannes, der von sanftem Idealismus durchdrungen war. Eines Mannes, der wusste, dass er starb, und sich fragte, warum.
Und genau das fragte sich Tarquin auch.
Die Menge tobte, weinte und schrie, und in all dem Lärm hörte Tarquin plötzlich den Gesang eines Vogels. Er riss seinen Blick mit Gewalt von der Szene der Verwüstung vor sich los und richtete ihn auf eine Palme, auf der ein Pirol saß und laut flötete. Laut und durchdringend.
Am anderen Ende der Welt bewegte sich Ambler im Hier und Jetzt in seinem Bett. Sofort fiel ihm auf, wie abgestanden die Luft in dem Motelzimmer roch. Er öffnete die Augen. Das Vogelgezwitscher hörte er immer noch.
Das Nokia, das er dem Hochsitzjäger in den Sourlands abgenommen hatte, klingelte.
Er drückte die Rufannahmetaste und hielt sich das Handy ans Ohr. »Hallo?«
»Tarquin«, sagte eine Stimme herzlich.
»Wer spricht da?«, fragte Ambler misstrauisch. Kalte Angst überkam ihn.
»Ich bin Osiris’ Controller«, erklärte der Anrufer munter.
»Das ist keine besonders gute Empfehlung«, erwiderte Ambler.
»Das brauchen Sie mir nicht zu sagen. Wir sind sehr besorgt wegen der Sicherheitslücke.«
»Von einer Sicherheitslücke spricht man, wenn jemand Ihre Privatpost liest. Wenn jemand Ihren Agenten erschießt, ist Sicherheitslücke doch wohl ein makabrer Euphemismus.«
»Da haben Sie verdammt recht. Und wir haben auch schon eine Vermutung, wer dahintersteckt. Die Sache ist die: Wir brauchen Sie, und zwar sofort.«
»Wer zum Teufel sind Sie?«, fragte Ambler. »Sie behaupten, Osiris habe für Sie gearbeitet. Sie könnten aber genauso gut derjenige sein, der seine Ermordung in Auftrag gegeben hat.«
»Hören Sie zu, Tarquin. Osiris war eine Bereicherung für unser Team. Sein Tod ist ein großer Verlust für uns, den wir alle bedauern.«
»Und Sie erwarten, dass ich Ihnen das einfach so glaube?«
»Ja, das erwarte ich«, sagte der Mann. »Ich weiß, was Sie können.«
Ambler schwieg. Genau wie Arkady und Osiris vertraute der Mann auf seine Fähigkeit, Lügen zu durchschauen. Aber Ehrlichkeit war noch lange keine Garantie für Wahrheit, erinnerte er sich selbst. Auch der Anrufer war vielleicht getäuscht worden. Aber Tarquin/Ambler hatte keine Wahl. Er musste mitspielen. Je tiefer er in die Organisation eindrang, desto größer war die Chance, dass er die Wahrheit darüber erfuhr, was mit ihm geschehen war. Dass er herausfand, wer er wirklich war.
Ein Gedanke nagte an ihm. Im Lauf seiner Karriere war Ambler gelegentlich in sogenannten Sequenzoperationen verwickelt
gewesen: Jede falsche Information führte direkt zur nächsten, die als noch wichtiger erschien. Eine gute Methode, um Feinde anzulocken und zu überlisten. Eine Sequenzoperation funktionierte nur, wenn die Information absolut glaubwürdig wirkte, das wusste er. Je hochrangiger die Zielperson war, desto größer war auch ihr Misstrauen. Oft setzte das Opfer ahnungslose Mittelsmänner ein, die Fragen stellten, welche die Informanten sofort beantworten mussten. Die Antworten mussten nicht fehlerfrei sein – das hätte die Zielperson nur noch misstrauischer gemacht –, aber sie mussten glaubwürdig wirken. Ein einziger Patzer ließ das ganze Spiel auffliegen.
Die schlauesten Zielpersonen drehten die
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