Ambler-Warnung
haben.«
Laurels Gesicht war sehr ernst. »Es gibt eine Frau, die für mich wie eine Tante ist. Sie war in meiner Kindheit die beste Freundin meiner Mutter. Inzwischen lebt sie in West Virginia. In einem Ort in der Nähe von Clarksburg.«
»Das wird gehen«, sagte Ambler.
»Bitte ...«, begann sie, und er sah die Angst und Verzweiflung ihrem Gesicht. Sie wollte nicht allein bleiben.
»Ich bringe dich hin«, sagte Ambler.
Die Fahrt nach Clarksburg dauerte ein paar Stunden und führte hauptsächlich über die Highways 68 und 79. Sie waren in Laurels altem Ford Mercury unterwegs, und Ambler achtete aufmerksam darauf, ob sie verfolgt oder überwacht wurden. Laurel weinte eine Zeit lang, dann verfiel sie in eisernes Schweigen. Sie musste eine völlig neue Erfahrung verarbeiten. Und schließlich reagierte sie auf dieses Trauma mit Wut und Entschlossenheit. Ambler machte sich derweil stumme, bittere Vorwürfe. In einem Augenblick der Schwäche hatte eine Krankenschwester ihm geholfen; und nun schwebte sie wegen ihm in Lebensgefahr, sie würde vielleicht sogar nie mehr in ihr altes Leben zurückkehren können. Die Frau, die neben ihm saß, sah ihn – das merkte er – als ihren Retter, als ihr sicheres Bollwerk an. Aber eigentlich war er das genaue Gegenteil. Aber davon würde er sie niemals überzeugen können. Diese logische Wahrheit verblasste vor ihren aufrichtigen Emotionen.
Als sie sich trennten – er hatte ein Taxi an eine Kreuzung bei Laurels Reiseziel bestellt –, verzog sie beinahe schmerzhaft das Gesicht, als habe man ihr ein Pflaster mit einem Ruck von einer Wunde gerissen. Er empfand etwas ganz Ähnliches.
»Ich habe dir das angetan«, murmelte Ambler, beinahe unhörbar. »Ich allein bin daran schuld.«
»Nein«, bestritt sie wütend. »Sag so etwas nie wieder. Sie sind schuld, verdammt noch mal. Sie. Solche Leute ...«, sie brach ab.
»Kommst du klar?«
Sie nickte langsam. »Schnapp dir die Mistkerle«, sagte sie durch zusammengebissene Zähne, dann drehte sie sich um und lief zu »Tante Jills« viktorianischem Reihenhaus im Zuckerbäckerstil. Eine Außenlampe tauchte die Veranda in warmes, goldenes Licht. Es sah aus, als verschwinde Laurel in einer sicheren Welt. Eine Welt, die ihm verschlossen blieb.
Er wagte nicht, sie noch länger den Gefahren auszusetzen, die ihn erwarteten. Irgendwo im Labyrinth lauerten die Bestien. Theseus musste den Minotaurus töten, sonst würden sie beide nie wieder ohne Angst leben können.
Als er sich am selben Abend in einem billigen Motel bei Morgantown in West Virginia einmietete, fiel es ihm schwer, einzuschlafen. Längst vergessen geglaubte Erinnerungen drangen in die Räume seines Geistes ein wie Radongas aus dem Keller. Sein Vater erschien ihm in Erinnerungsfetzen und fragmentierten Bildern: ein attraktives, kantiges Gesicht, das bei näherer Betrachtung weniger attraktiv wirkte. Tiefe Krähenfüße und großporige Lederhaut waren der äußerliche Preis, den er für seine jahrelange Sauferei gezahlt hatte. Der Lakritzgeruch der Bonbons, die er immer lutschte, um den Alkoholgeruch seines Atems zu verbergen. Der typische Gesichtsausdruck seiner Mutter – eine passive Leidensmiene. Er hatte lange gebraucht, um den Arger zu erkennen, der wie die Bässe in einer Orgelmusik darunterlag. Ihr Gesicht war immer dick mit Make-up zugekleistert. Die puderige Schicht war ihre Alltagsmaske. So würde niemandem auffallen, dass sie das Make-up manchmal brauchte, um einen Bluterguss abzudecken.
Es war kurz vor seinem siebten Geburtstag passiert. »Warum verlässt Daddy uns?«, hatte Hal gefragt. Er saß mit seiner Mutter in dem abgedunkelten Raum neben der Küche, dem sogenannten Familienzimmer. Der Name blieb, auch wenn sie dort fast nie als Familie zusammensaßen. Sie saß auf dem Sofa und strickte einen dicken Schal, den niemand jemals tragen würde. Das wusste sie, aber sie strickte ihn trotzdem. Die dicken Nadeln klapperten über einem Knäuel blutroter Wolle. Jetzt sah sie auf und erblasste unter ihrer dicken Make-up-Schicht. »Was redest du denn da?« Schmerz und Verwirrung lagen in ihrer Stimme.
»Wird Daddy uns verlassen?«
»Hat dein Daddy das zu dir gesagt? Hat er gesagt, dass er uns verlassen will?«
»Nein«, sagte der fast siebenjährige Junge. »Gesagt hat er nichts.«
»Dann ... Was ist bloß in dich gefahren?« Jetzt war sie wütend.
»Es tut mir leid, Mommy«, sagte der Junge schnell.
»Bist du vom Teufel besessen? Warum sagst du so
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