Ambler-Warnung
etwas?«
Aber es ist doch klar, wollte er sagen. Siehst du es denn nicht?
»Es tut mir leid«, wiederholte der Junge.
Aber diese Entschuldigung genügte nicht mehr, als Daddy sich eine Woche später tatsächlich aus dem Staub machte. Er hatte seine Schränke ausgeräumt, seinen Krimskrams – Krawattennadeln, Blechfeuerzeug, Zigarren – eingepackt, seinen Chevy aus der Garage geholt und war verschwunden. Daddy hatte sich aus ihrem Leben verabschiedet.
Hals Mutter holte ihn an diesem Tag von einer Nachmittagsveranstaltung der Schule ab. Sie war im Camdener Einkaufszentrum gewesen und hatte Geburtstagsgeschenke für ihn besorgt. Als sie nach Hause kamen und begriffen, was
geschehen war, brach Hals Mutter in haltloses Schluchzen aus.
Obwohl auch ihm die Tränen übers Gesicht liefen, versuchte er ungeschickt, sie zu trösten. Aber sie wich schaudernd vor seiner kindlichen Berührung zurück. Sie erinnerte sich daran, was er ein paar Tage früher gesagt hatte, und ihr Gesicht war vor Entsetzen verzerrt.
Später versuchte sie, gute Laune zu verbreiten, schließlich hatte er Geburtstag. Aber sie fanden nie wieder in ihr altes Verhältnis zurück. Sein forschender Blick machte sie nervös, und sie begann ihm auszuweichen. Hal hatte noch viele, ganz ähnliche Erinnerungen, aus denen er eines gelernt hatte: Es war besser, allein zu sein, als verlassen zu werden.
Dann war der Siebenjährige plötzlich siebenunddreißig, und nun gehörte der forschende Blick einem anderen. Einem jungen Politiker aus Taiwan, der ihn über Zeit und Raum hinweg anblickte.
Du hast etwas durchschaut, was du nicht hättest durchschauen dürfen.
Er war wieder in Changhua und stand inmitten der dicht gedrängten Menge. Er sollte warten, bis sich der Kandidat in der optimalen Position befand, und dem Sprengstoffexperten dann das Signal geben, die Bombe zu zünden.
So sachliche Worte für einen Mord. Vielleicht konnten die Agenten nur so ihre schmutzige Arbeit verrichten.
Wai-Chan Leung war körperlich weniger eindrucksvoll, als er erwartet hatte, ein zierlicher, ziemlich kleiner Mann. Aber seinen Zuhörern kam es nicht auf die Körpergröße an, und als er zu sprechen begann, empfand auch Ambler ihn plötzlich nicht mehr als klein.
»Meine Freunde«, begann der Politiker. Er trug ein drahtloses Mikrofon an seinem Revers und bewegte sich, während
er frei sprach. Er warf keinen Blick auf seine Notizen. »Darf ich euch meine Freunde nennen? Ich glaube schon. Und ich hoffe inbrünstig, dass auch ihr mich euren Freund nennt. Unsere politischen Führer in der Volksrepublik China sind leider seit vielen Jahren nicht mehr unsere wahren Freunde. Die Freunde ausländischer Investoren vielleicht. Freunde reicher Herrscher. Die Freunde anderer Regierungschefs. Freunde des Internationalen Währungsfonds. Aber ich fürchte, dass sie keineswegs eure Freunde sind.«
Er wurde von Applaus unterbrochen und legte eine kurze Pause ein. »Ihr kennt doch die alte chinesische Geschichte von den drei Abstinenzlern, die an der Taverne vorbeigehen. Der Erste sagt: >Ich bin so empfindlich, dass ich nach einem Glas Wein schon rot im Gesicht werde und in Ohnmacht falle.< Der Zweite sagt: >Das ist noch gar nichts. Ich muss nur Wein riechen, dann werde ich knallrot, fange an zu torkeln und kollabiere. < Und der Dritte sagt: >Und mir reicht es, wenn ich jemanden sehe, der an Wein gerochen hat ... <«Die Menge reagierte mit freundlichem Gelächter auf die bekannte Anekdote. »In dieser Ära der Globalisierung sind einige Länder besonders verwundbar. Taiwan ist der dritte Mann. Wenn es Kapitalflucht gibt, wenn der Dollarkurs ins Schwanken gerät, wenn irgendwo auf der Welt so etwas passiert, dann werden unsere Wirtschaft und unsere Politik rot im Gesicht und beginnen zu torkeln.« Er verstummte und machte einen Schritt auf das Pult zu.
Tarquin – denn jetzt war er Tarquin – beobachtete ihn konzentriert und fasziniert. Nichts an dem Menschen, der zwanzig Meter vor ihm stand, passte zu dem Dossier, das man ihm und seinem Team ausgehändigt hatte. Er hatte keine Beweise dafür, nur seine Intuition. Aber diese Intuition war für ihn Beweis genug. Das Dossier beschrieb einen gerissenen Mann, der von Machtgier zerfressen war und beseelt
von unbarmherziger, tödlicher Wut. Einen Mann, den Hass und Zynismus zerfressen hatten. Jemand, dessen öffentlich vorgetragenes Mitgefühl nur eine schauspielerische Meisterleistung war. Tarquin spürte keine dieser Eigenschaften:
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