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Ameisenroman

Ameisenroman

Titel: Ameisenroman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: E. O. Wilson
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knacken. Es war immer eine Versuchung, stattdessen die Gerichte die Angelegenheit mit einer Entscheidung beenden zu lassen.
    Entschied man sich für den Mittelweg, so gab es einigen Grund zu Optimismus. Raff erfuhr von mehreren viel versprechenden Verfahren, die in den vergangenen Jahrzehnten vom Innenministerium und dem gemeinnützigen Environmental Defense Fund ausgearbeitet worden waren. Angenommen, der Besitzer eines biologisch wertvollen Stücks Grund und Boden möchte dessen Naturzustand wahren, muss es aber aus finanzieller Not an einen schon darauf lauernden Bauträger verkaufen. In einigen Fällen ist die Lösung ganz einfach: Man schützt den Grund, indem man ihn im Tausch gegen biologisch weniger wertvolles Land, das aber für den Investor attraktiv ist, erwirbt, so dass der Besitzer diesen Grund dann für die gleiche oder sogar eine höhere Summe verkaufen kann. Oder ein weiterer Fall: Ein Eigentümer möchte sein Land schützen, befürchtet aber, dass die Erben esirgendwann wenigstens teilweise verkaufen müssen, um die Grundsteuer bezahlen zu können. Hier lässt sich ein zeitlich unbegrenzter Steueraufschub arrangieren, der so lange garantiert ist, wie das Land in seinem ursprünglichen Zustand belassen wird.
    Solche Lösungswege, die im Einzelfall entwickelt und nicht etwa durch eine abstrakte Auslegung festgesetzter Rechtsnormen durchgesetzt wurden, waren Raffs Lieblingswaffen, mit denen er sein Arsenal für die kommenden Kämpfe bestückte.
    Zögernd und zaudernd hielt der Frühling wie geistesabwesend Einzug in Neuengland. Der April ist ein Monat mit kaltem Regen und gelegentlichen, zum Glück nur kurzen Schneestürmen. Noch immer wehen regelmäßig die Nordostwinde, und die heftigen Böen lassen die gefühlte Temperatur noch immer bis auf den Gefrierpunkt sinken. Ende April, Anfang Mai dann erblühen die Forsythien an den engen Wohnstraßen von Boston und Cambridge endlich in strahlendem Gelb, und die abfallenden weiß- und lilafarbenen Blütenblätter verwelkter Magnolien bedecken den Boden in den kargen Gärten. Dazwischen treiben die tapferen Krokusse aus und beeilen sich mit der Blüte, bevor sie im sprießenden Gras und unter den Hinterlassenschaften der Hunde ersticken. Bis zu dieser glücklichen Zeit aber muss jeder, der den Pflanzen beim Knospen zusehen möchte, aufs Land fahren, sich durch Brombeergestrüpp bis an irgendwelche Sümpfe vorarbeiten und nach amerikanischem Stinktierkohl Ausschau halten.
    Da es sein letztes Jahr in Harvard war, hatte Raphael Semmes Cody diesmal den langen Winter gelassen ertragen. Ab Mitte April begannen immer wieder Briefe vonAnwaltsunternehmen einzugehen: Anfragen und gar Vertragsangebote aus Atlanta, Memphis, Birmingham, Miami und sogar aus New York. Für sein Fachgebiet hatte sich in letzter Zeit großer Bedarf entwickelt. In der juristischen Fakultät hieß es, die großen Unternehmen holten sich junge Talente ins Haus, die mit Verfahren im Umweltbereich umgehen konnten.
    Raff schrieb höfliche Antworten, die ihm alle Türen offen hielten. Dabei wusste er, dass seine Karriere wahrscheinlich nie diesen Weg gehen würde. Er kehrte zurück nach Mobile, egal, ob mit oder ohne Job.
    Dieser Beschluss stand noch immer fest, als er zwei Monate später seinen Abschluss machte. Die Entlassungsfeier fand nach alter Tradition am Vormittag des ersten Donnerstags im Juni statt. Raff lud zu diesem Ereignis seine Eltern ein. Am Abend zuvor führte er sie zum Essen zu seinem Lieblingsinder an die Massachusetts Avenue einen Block hinter dem Harvard Square. Ainesley fühlte sich mit allem in Cambridge ganz offensichtlich unwohl. Nach der langen Reise aus Mobile ging es ihm nicht gut, und er war ziemlich reizbar. Raff spürte seine Liebe zu ihm, als sein Vater im Restaurant eine Brille aufsetzte, lange die Speisekarte studierte und schließlich fragte: «Haben sie denn hier nichts Frittiertes?»
    Am nächsten Tag fiel entgegen der Tradition – manche sagten gar unter Verletzung der göttlichen Vorsehung – ein leichter Regen über Ost-Massachusetts. Die großartigste und altehrwürdigste Entlassungsfeier im ganzen Land begann mit Glockengeläut in allen benachbarten Kirchen, dann kam ein Ausbruch von Glück, Freude und Beifall, als Präsident Lawrence Summers in Begleitungder Mitglieder der Verwaltungs- und Aufsichtsorgane aus dem Old Yard trat und in einer Prozession in das regennasse Tercentenary Theatre einzog. Fakultätsangehörige in wallenden Talaren aus allen

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