Ameisenroman
Universitäten der Welt folgten ihnen unter ihren Regenschirmen.
Sie zogen durch einen schmalen Gang zwischen den versammelten Absolventen. Über die Köpfe der Tausenden Familien und Gäste hinweg, die sich überall drängten, wurden Grüße und Glückwünsche ausgetauscht. Abrupt verstummte der Lärm, als die Gruppen auf der Bühne Platz genommen hatten und der Sheriff des Countys Middlesex mit seinem Amtsstab in die Mitte trat, dreimal auf die Bretter pochte, dass es klang wie Gewehrschüsse, und das Publikum zur Ordnung rief.
Alle Anwesenden sangen dann die Nationalhymne. Es folgten die ökumenisch bereinigte Ausgabe eines Gebets, die Harvard-Hymne «Domine salvum fac» und anschließend Ansprachen von Studenten auf Lateinisch und Englisch, wie es seit dem 17. Jahrhundert üblich war. Dann wieder Chor- und Orchestermusik und die Beglückwünschung der besten Absolventen des Grundstudiums in den Geistes- und Naturwissenschaften.
Nun verlieh Präsident Summers Fakultät für Fakultät die Harvard-Abschlüsse. Die Stimmung wechselte von Getragenheit zu Ausgelassenheit. Die Mediziner trugen Stethoskope, die zum Glück noch an keinem Patienten erprobt worden waren, und natürlich warfen die Absolventen der Wirtschaftswissenschaften händeweise Ein-Dollar-Scheine in die Luft. Raff stand mit seinen Kameraden auf, als ihnen ihr Titel verliehen wurde. Es war nun amtlich bestätigt, dass er, wie der Präsident betonte, als Jurist bewandert war «in diesen klugen Zwängen, dieuns Freiheit geben». Im Stehen suchte Raff in der riesigen Menge nach seinen Eltern, aber ohne Erfolg. In einem Augenblick unerwarteter Sehnsucht suchte er auch unter den jüngeren Studenten nach JoLane Simpson, aber er konnte sie in dem Meer von Hüten nicht ausmachen.
Zum Schluss wurde an neun wissenschaftliche Koryphäen die Ehrendoktorwürde verliehen. Jeder stand einzeln da, mal gab es höflichen, dann wieder donnernden Applaus. Jeder bekam seine Laudatio, die in poetischem Ton verfasst und kurz genug war, dass sie auch als Grabrede hätte dienen können.
Schließlich zogen die auf der Bühne versammelten Honoratioren wieder zurück durch den schmalen Gang, den die Studenten frei gelassen hatten, und der große Ameisenhaufen ausgelassener Harvardianer zerstreute sich. Marcia und Ainesley traten hinaus auf den Harvard Yard und warteten am Fuß der Statue von John Harvard auf Raff.
Während er auf seinen Sohn wartete, rieb Ainesley mit der Hand über eine der Schuhspitzen der Statue, die von der Berührung Tausender Touristen vor ihm schon ganz blank poliert war. Er sah in der Nähe einen älteren Schwarzen, der sich auf einen Gehstock mit silbernem Knauf stützte und im vornehmen Südstaaten-Ton sprach. Ainesley begann ein Gespräch und erfuhr, dass er Professor an der Southern Mississippi University in Hattiesburg war. Wie sich herausstellte, war seine Enkelin, die neben ihm wartete, eine junge Absolventin der juristischen Fakultät von Harvard. Sie bestätigte, dass sie Raff schon begegnet war, kannte ihn aber nicht gut. Als Ainesley sie nach ihren Plänen befragte, sagte sie, sie wolle in Mississippi in die Politik gehen. Marcia staunte, alsAinesley zu den beiden sagte: «Ich wünschte, ihr kämt alle in die Gegend, wo ich herkomme. Wir könnten euch sicher brauchen.»
Am nächsten Tag besichtigten sie Cambridge und Boston. Marcia bestand darauf, dass sie einen Großteil des Tages im Museum of Fine Arts verbrachten. Schon am nächsten Tag reisten die Codys nach Hause. Am Mobile Regional Airport bestieg Ainesley seinen neuen pflaumenfarbenen Toyota-Pickup, auf den er sehr stolz war, und die drei fuhren zurück nach Clayville. Am selben Abend rief Raff ein paar alte Freunde aus der Nokobee Regional Highschool an, die noch in der Gegend waren, und brachte sich auf den neuesten Stand, was Klatsch und Tratsch betraf. Der nächste Tag war ein Sonntag, an dem er mit seinen Eltern nach Brewton in den Gottesdienst der episkopalen Kirche fuhr.
Den restlichen Nachmittag legte sich Raff auf sein altes Bett neben die ungelesene Sonntagsausgabe des
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und döste. Als sie nach dem Essen beim Kaffee saßen, fragte Raff seinen Vater, ob er etwas Neues über den Nokobee Tract wusste.
«Soweit ich weiß, ist alles in Ordnung. Er ist noch da», sagte Ainesley.
Raff war entschlossen, nun seinen Plan umzusetzen, den er seit einem Jahr hegte. Seit Wochen dachte er an nichts anderes. Besser jetzt als nie, dachte er. Bloß jetzt nicht kneifen. Hoch
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